Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
ein hoher, schwerer Wagen, mit zwei Kamelen bespannt, fährt langsam und knarrend in Richtung Friedhof, wo die blutigen Leichname, mit denen er fast bis zum Rande beladen ist, bestattet werden sollen. Wenn Sie sich dem Hafen nähern, schlägt Ihnen ein eigentümlicher Geruch nach Steinkohle, Dünger, Feuchtigkeit und Rindfleisch entgegen; tausenderlei Dinge – Holz, Fleisch, Schanzkörbe, Mehl, Eisen und anderes – liegen aufgehäuft auf dem Landungsplatz. Soldaten verschiedener Regimenter, teils mit Säcken und Gewehren, teils ohne Feldgepäck, drängen sich hier, rauchen, schimpfen miteinander und schleppen Lasten auf den Dampfer, der qualmend an der Anlegestelle liegt; Mietsjollen, die mit allen möglichen Leuten – Soldaten, Seeleuten, Händlern und Frauen – besetzt sind, legen am Landungsplatz an oder stoßen ab …
Am Kai stehen lärmend eine Menge Soldaten in grauen und Matrosen in schwarzen Mänteln sowie buntgekleidete Frauen. Weiber halten Gebäck feil, russische Bauern bieten aus ihren Samowaren mit lauten Rufen heißen Sbiten * an, und gleich auf den ersten Stufen sehen Sie verrostete Kanonenkugeln, Bomben, Kartätschen und gußeiserne Geschütze verschiedenen Kalibers herumliegen. Etwas weiter weg erstreckt sich ein großer Platz voll mächtiger Balken, Lafetten und schlafender Soldaten. Hier stehen Pferde, Fuhrwerke, grüne Geschütze, Munitionskisten und Gewehrpyramiden der Infanteristen; Soldaten, Matrosen, Offiziere, Frauen, Kinder und Händler bewegen sich auf dem Platz hin und her; Fuhren mit Heu, Säcken und Tonnen fahren vorüber; hin und wieder reitet ein Kosak, ein Offizier über den Platz, oder ein General fährt in einer Kutsche vorbei. Rechter Hand ist die Straße durch eine Barrikade gesperrt; in den Schießscharten sind kleine Kanonen aufgestellt, neben denen ein Matrose sitzt und seine Pfeife raucht. Zur Linken erhebt sich ein stattliches Haus mit römischen Ziffern am Giebel, vor dem Soldaten und blutbefleckte Tragbahren stehen – überall nehmen Sie die unangenehm berührenden Merkmale eines Kriegslagers wahr. 1
Sewastopol war eine Militärstadt. Die Bevölkerung von 40 000 Menschen war auf die eine oder andere Weise mit dem Leben des Marinestützpunkts verknüpft, dessen Garnison rund 18 000 Mann zählte, und aus dieser Einheit bezog Sewastopol seine militärische Stärke. Etliche Matrosenfamilien lebten dort seit der Gründung der Stadt in den 1780er Jahren. Eine gesellschaftliche Besonderheit bestand darin, dass Fräcke unter den Marineuniformen auf den Hauptstraßen selten zu sehen waren. Es gab keine großen Museen, Galerien, Konzertsäle oder sonstigen kulturellen Schätze in Sewastopol. Die imposanten neoklassischen Gebäude des Stadtzentrums hatten sämtlich militärischen Charakter: die Admiralität, die Marineakademie, das Arsenal, die Garnisonen, die Werften, die Armeelagerhäuser, das Lazarett und die Offiziersbibliothek, eine der am besten bestückten in Europa. Sogar die Adelsversammlung (das »stattliche Haus mit römischen Ziffern am Giebel«) wurde während der Belagerung zu einem Krankenhaus umfunktioniert.
Die Stadt setzte sich aus zwei grundverschiedenen Teilen zusammen, einer Nord- und einer Südseite, die durch den Seehafen voneinander getrennt waren und nur per Schiff direkt miteinander Verbindung aufnehmen konnten. Die Nordseite hatte nichts mit den eleganten neoklassischen Fassaden um den Militärhafen an der Südseite zu tun. Sie besaß kaum Pflasterstraßen, und Fischer und Seeleute wohnten dort auf halb ländliche Art, bauten in den Gärten ihrer Datschen Gemüse an und hielten Tiere. An der Südseite gab es eine weitere, weniger offensichtliche Aufteilung zwischen dem Verwaltungszentrum im Westen des Militärhafens und den Marinewerften im Osten, wo die Matrosen in Garnisonen untergebracht waren oder mit ihren Angehörigen in kleinen Holzhäusern wohnten, die nur ein paar Meter von den Verteidigungsanlagen entfernt lagen. Frauen hängten ihre Wäsche an Leinen auf, die sich zwischen ihren Häusern und den Festungsmauern und - bastionen spannten. 2
Wie Tolstoi waren die Besucher von Sewastopol stets überrascht über die »eigentümliche Verquickung des Lagerlebens mit dem städtischen Getriebe, der hübschen Stadt mit dem schmutzigen Biwak«. Jewgeni Jerschow, ein junger Artillerieoffizier, der in jenem Herbst in Sewastopol eintraf, war beeindruckt davon, wie die Bewohner trotz des Chaos der Belagerung ihrem alltäglichen Leben nachgingen. »Es war
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