Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
muslimischen Stämme waren hauptsächlich Sunniten und lehnten jegliche politische Kontrolle durch weltliche Behörden ab, doch infolge ihrer Religion richteten sie sich nach dem osmanischen Sultan in seiner Eigenschaft als »oberster Kalif des islamischen Rechtes«. Unter dem Kommando von General Alexander Jermolow, der 1816 zum Gouverneur Georgiens ernannt wurde, führten die Russen einen brutalen Terrorkrieg, überfielen Dörfer, brannten Häuser nieder, zerstörten Anbauflächen und rodeten Wälder bei dem vergeblichen Versuch, die Bergstämme zu unterjochen. Der mörderische Feldzug löste eine organisierte Widerstandsbewegung der Stämme aus, die bald einen eigenen religiösen Charakter annahm.
Der religiöse Haupteinfluss, bekannt als Muridismus, wurde von der (sufitischen) Naqschbandi-Sekte ausgeübt, die Anfang des 19. Jahrhunderts in Dagestan zu florieren begann und von dort nach Tschetschenien übergriff, wo Prediger den Widerstand als heiligen Krieg (Dschihad), geführt von Imam Ghazi Muhammad, gestalteten, um die Scharia und die Reinheit des islamischen Glaubens zu verteidigen. Der Muridismus war eine wirksame Mischung aus heiligem und sozialem Krieg gegen die ungläubigen Russen und die Fürsten, die ihnen beistanden. Er brachte den Bergstämmen, die zuvor durch Blutfehden gespalten waren, eine neue Einheit und ermöglichte dem Imam, Steuern und eine allgemeine Wehrpflicht einzuführen. Die Herrschaft des Imams wurde durch die Muriden (religiöse Helfer) durchgesetzt, welche die lokalen Beamten und Richter in den aufständischen Dörfern stellten.
Je religiöser der Widerstand wurde, desto religiöser geprägt war auch die russische Invasion. Die Christianisierung des Kaukasus rückte in den Vordergrund, und die Russen lehnten jeden Kompromiss mit der muslimischen Führung der Rebellen ab. »Eine uneingeschränkte Annäherung zwischen ihnen und uns kann nur dann erwartet werden, wenn das Kreuz auf den Bergen und in den Tälern aufgestellt ist und wenn Kirchen Christi des Erlösers die Moscheen ersetzt haben«, hieß es in einem offiziellen russischen Dokument. »Bis dahin ist Waffengewalt die wahre Stütze unserer Herrschaft im Kaukasus.« Die Russen zerstörten Moscheen und schränkten muslimische Praktiken ein – die größte Empörung wurde durch das Verbot der Pilgerreise nach Mekka und Medina ausgelöst. In vielen Gegenden war die Zerstörung muslimischer Ortschaften Folge einer russischen Politik, die man heute als »ethnische Säuberung« bezeichnen würde: Bergstämme wurden gewaltsam umgesiedelt, und man verteilte ihr Land an Christen. Im Kuban und im Nordkaukasus verdrängten slawische Siedler – hauptsächlich russische oder ukrainische Bauern und Kosaken – die muslimischen Stämme. In manchen Bereichen des Südkaukasus ergriffen die christlichen Georgier und Armenier Partei für die russischen Angreifer und erhielten einen Teil der Beute. Zum Beispiel schlossen sich Georgier während der Eroberung des Khanats Ganja (Jelisawetopol) der russischen Armee als Hilfstruppen an; danach wurden sie von den Russen ermutigt, sich in dem besetzten Territorium niederzulassen und das Land zu übernehmen, das die Muslime nach einer religiösen Verfolgungskampagne aufgegeben hatten. Die Provinz Jerewan, die annähernd dem modernen Armenien entspricht, hatte eine überwiegend türkisch-muslimische Bevölkerung bis zum russisch-türkischen Krieg von 1828/29, in dessen Verlauf die Russen rund 26000 Muslime vertrieben. Im folgenden Jahrzehnt holten sie fast die doppelte Anzahl von Armeniern herbei. 20
Nirgendwo aber war der religiöse Charakter der südlichen Eroberungen Russlands deutlicher als auf der Krim. Die Halbinsel hat eine lange und komplexe Religionsgeschichte. Den Russen galt sie als heilige Stätte. Den Chroniken zufolge war Wladimir, der Großfürst von Kiew, 998 in Chersonessos, der antiken griechischen Kolonialstadt an der Südwestküste der Krim knapp außerhalb des heutigen Sewastopol, getauft worden, womit das Christentum in die Kiewer Rus gelangte. Die Krim war jedoch auch die Heimat von Skythen, Römern, Griechen, Goten, Genuesern, Juden, Armeniern, Mongolen und Tataren. An einer tiefen historischen Bruchlinie gelegen, welche die Christenheit von der muslimischen Welt der Osmanen und der turksprachigen Stämme trennte, war die Krim unablässig umkämpft und Schauplatz zahlreicher Kriege. Religiöse Stätten und Gebäude wurden selbst zu Schlachtfeldern des Glaubens, denn jede neue
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