Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
neue Logik, die die Teilnahme der Briten an einer erneuten Attacke vorsah.
Inzwischen hatten sich die Franzosen bis zu den Abatis des Malachow, nur 20 Meter vom Festungsgraben entfernt, vorgearbeitet und erlitten schwere Verluste durch die russischen Geschütze. Sie hatten ihren Laufgraben so dicht an den Malachow vorangetrieben, dass sogar ihre Gespräche deutlich von den Russen zu hören waren. Auch die Briten hatten sich so weit wie auf dem felsigen Untergrund möglich zum Redan vorgeschoben – sie waren 200 Meter vom Fort entfernt – und verloren ebenfalls zahlreiche Männer. Aus dem Obergeschoss der Marinebibliothek konnten die Russen die Gesichtszüge der britischen Soldaten in den exponierten Gräben erkennen. Ihre Scharfschützen im Redan hatten keine Mühe, die Briten zu treffen, sobald diese den Kopf hoben. Täglich hatten die alliierten Armeen 250 bis 300 Opfer zu beklagen. Die Situation war unhaltbar. Es hatte keinen Sinn, den Angriff hinauszuschieben, denn wenn er jetzt scheiterte, würde er wahrscheinlich nie gelingen, und dann empfahl es sich, die Belagerung vor Beginn des Winters aufzugeben. Aufgrund dieser Überlegung gestattete nun die britische Regierung Raglans Nachfolger, General James Simpson, zusammen mit Pélissier einen letzten Versuch zur Eroberung Sewastopols durch eine Infanterieattacke zu planen. 24
Als Termin für die Aktion setzte man den 8. September an. Im Gegensatz zu dem stümperhaften Versuch vom 18. Juni ging dem Angriff diesmal ein massives Bombardement der russischen Verteidigungsanlagen voraus. Es begann am 5. September, wenngleich das alliierte Artilleriefeuer bereits seit den letzten Augusttagen stetig an Intensität zugenommen hatte. Die französischen und britischen Geschütze richteten mit 50 000 Granaten pro Tag – aus einer viel größeren Nähe als je zuvor – ungeheuren Schaden an. Kaum ein Gebäude blieb im Stadtzentrum stehen, das aussah, als wäre es von einem Erdbeben erschüttert worden. Die Zahl der Opfer war entsetzlich – seit der letzten Augustwoche wurden jeden Tag rund 1000 Russen getötet oder verwundet (fast 8000 in den ersten drei Tagen der Bombardierung), doch die letzten tapferen Verteidiger von Sewastopol dachten nicht daran, die Stadt aufzugeben. »Im Gegenteil«, versicherte Jerschow,
obwohl wir ein halb zerstörtes Sewastopol verteidigten, im Grunde eine Geisterstadt, die abgesehen von ihrem Namen keine Bedeutung mehr hatte, waren wir bereit, bis zum letzten Mann auf den Straßen für sie zu kämpfen. Wir verlegten unsere Vorräte auf die Nordseite, errichteten Barrikaden und gingen daran, jede Ruine zu einer bewaffneten Zitadelle umzugestalten. 25
Die Russen rechneten mit einem Angriff – das Bombardement ließ keinen Zweifel an den Plänen der Alliierten – , aber sie glaubten, er würde am 7. September stattfinden, dem Jahrestag der Schlacht von Borodino, ihres berühmten Sieges über die Franzosen im Jahr 1812, bei dem ein Drittel von Napoleons Armee vernichtet worden war. Als die Offensive ausblieb, ließ die Wachsamkeit der Verteidiger nach. Noch verwirrter waren sie am Morgen des 8. September, als der Beschuss um fünf Uhr mit wütender Intensität fortgesetzt wurde (die französischen und britischen Kanonen feuerten mehr als 400 Geschosse pro Minute ab) und um zehn Uhr plötzlich aufhörte. Wieder fand der Angriff nicht statt. Die Russen hatten erwartet, dass die Alliierten entweder im Morgengrauen oder in der Abenddämmerung, wie sie es immer getan hatten, in Aktion treten würden. Folglich deutete das neue Bombardement ihrer Meinung nach auf eine mögliche Attacke an jenem Abend hin. Diese Annahme erhielt um elf Uhr weitere Nahrung, als die russischen Posten auf den Inkerman-Höhen meldeten, dass alliierte Schiffe allem Anschein nach dabei waren, sich zu rüsten und zu formieren. Sie irrten sich nicht, denn der alliierte Plan hatte vorgesehen, dass die Flotte an der Offensive teilnehmen und die Küstenverteidigung der Stadt beschießen solle, doch an jenem Morgen schlug das klare, heiße Wetter um, wonach ein starker Nordwestwind und eine schwere See diesen Teil der Operation in letzter Minute verhinderten. Folglich machten die Schiffe, die sich am Eingang des Seehafens versammelt hatten, nicht den Eindruck, als würden sie eine baldige Offensive unterstützen können. Und doch waren die Alliierten drauf und dran loszuschlagen. Bosquet hatte klugerweise gefordert, den Angriff am Mittag beginnen zu lassen, wenn die Russen die
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