Krimkrieg: Der letzte Kreuzzug (German Edition)
Daneben forderten die Österreicher, dass ihnen die von den Türken aufgenommenen Ungarn, darunter Kossuth, übergeben wurden. Das Völkerrecht sah die Auslieferung von Verbrechern vor, doch die Türken betrachteten die Exilanten nicht als soche: Sie empfingen die antirussischen Soldaten mit offenen Armen und gewährten ihnen politisches Asyl, womit sie dem Beispiel liberaler westlicher Staaten folgten, die 1831 unter gewissen Bedingungen polnische Flüchtlinge akzeptiert hatten. Bestärkt von den Briten und Franzosen, gaben die Türken den Drohungen der Russen und Österreicher nicht nach, die daraufhin ihre Beziehungen zur Pforte abbrachen. Im Oktober reagierte London auf türkische Bitten um Militärhilfe und entsandte sein maltesisches Geschwader zur Besika-Bucht außerhalb der Dardanellen, wo sich ihm später eine französische Flotte anschloss. Die Westmächte standen nun kurz vor einem Krieg mit Russland.
Mittlerweile war die britische Öffentlichkeit außer sich, was die ungarischen Flüchtlinge betraf. Deren heldenhafter Kampf gegen die mächtige Tyrannei des Zaren hatte die Fantasie der Briten beflügelt und wieder einmal ihre leidenschaftliche Abneigung gegen Russland bestärkt. In der Presse wurde die ungarische Revolution als Spiegelbild der Glorreichen Revolution von 1688 gefeiert, in deren Verlauf das britische Parlament König Jakob II . gestürzt und eine konstitutionelle Monarchie errichtet hatte. Kossuth galt als »sehr britischer« Revolutionär: als liberaler Gentleman und Anhänger einer aufgeklärten Aristokratie, als Kämpfer für die Prinzipien der Parlamentsherrschaft und der konstitutionellen Regierung (zwei Jahre später wurde er auf einer Vortragsreise durch Großbritannien von riesigen Zuhörerscharen als Held begrüßt). Die ungarischen und polnischen Flüchtlinge galten als romantische Freiheitskämpfer. Karl Marx, der 1849 nach London ins politische Exil gegangen war, leitete eine Kampagne gegen Russland als Feind der Freiheit ein. Berichte über Vergeltungsmaßnahmen und Gräueltaten russischer Soldaten in Ungarn und in den Donaufürstentümern erregten Abscheu, und die britische Öffentlichkeit war begeistert, als Palmerston bekannt gab, er werde Kriegsschiffe zu den Dardanellen schicken, um den Widerstand der Türken gegen den Zaren zu festigen. Genau eine solche unerschrockene Außenpolitik – die Bereitschaft, überall auf der Welt zur Verteidigung der britischen liberalen Werte einzutreten – erwartete die Mittelschicht von ihrer Regierung, wie die Don-Pacifico-Affäre zeigen sollte. ******
Die Mobilisierung der britischen und der französischen Flotte bewog Nikolaus, in der Flüchtlingsfrage einen Kompromiss mit den osmanischen Behörden zu schließen. Die Türken verpflichteten sich, die polnischen Flüchtlinge fern von der russischen Grenze unterzubringen – ein Zugeständnis, das weitgehend den Prinzipien politischen Asyls in westlichen Staaten entsprach – , und der Zar bestand nicht mehr auf ihrer Auslieferung.
Doch gerade als eine Einigung erzielt wurde, traf die Nachricht aus Konstantinopel ein, Stratford Canning habe den Meerengenvertrag von 1841 so interpretiert, dass es der britischen Flotte gestattet sei, in den Dardanellen Zuflucht zu suchen, wenn starke Winde in der Besika-Bucht es erforderten – und genau das war der Fall, als die Schiffe Ende Oktober eintrafen. Nikolaus tobte und befahl Titow, der Hohen Pforte mitzuteilen, dass Russland die gleichen Rechte am Bosporus habe wie die, die Großbritannien gerade in den Dardanellen für sich beansprucht hatte – eine glänzende Reaktion, denn vom Bosporus aus würden russische Schiffe in der Lage sein, Konstantinopel anzugreifen, lange bevor die britische Flotte sie von den fernen Dardanellen her erreichen konnte. Palmerston machte einen Rückzieher, entschuldigte sich bei Russland und bekräftigte, dass sich seine Regierung dem Vertrag verpflichtet fühle. Die alliierten Flotten wurden fortgeschickt, und die Kriegsgefahr war abgewendet – wieder einmal.
Bevor Palmerstons Entschuldigung eintraf, wurde der britische Gesandte in St. Petersburg jedoch vom Zaren gemaßregelt. Dessen Worte enthüllen recht viel über seine Denkweise, nur vier Jahre bevor er gegen die Westmächte in den Krieg zog:
Ich verstehe das Verhalten von Lord Palmerston nicht. Wenn er Krieg gegen mich führen will, soll er dies offen und loyal erklären. Es wäre ein großes Unglück für die beiden Länder, doch ich bin darauf
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