Kristall der Macht
den Strand zu konzentrieren.
Ruhig.
Ganz ruhig.
Lass dich fallen. Im Geiste glaubte sie wieder die Stimme der alten Maor-Say zu hören, die ihrer oft so ungeduldigen Schülerin erst hatte beibringen müssen, was es bedeutete loszulassen.
Als sie die Augen öffnete, war das Bild vom Strand wieder da. Größer und klarer als zuvor, und ehe sie sich versah, war sie mittendrin.
»Ich denke nicht daran!« Ein junger Mann, der von allen Samui gerufen wurden und den Noelani nur flüchtig kannte, schien in einen Streit mit Jamak verwickelt zu sein. »Ich lasse mir nichts befehlen. Von niemandem, auch nicht von dir.«
»Das ist kein Befehl.« Jamak sprach ganz ruhig. »Aber wir müssen uns für die Nacht wappnen. Ohne ein wärmendes Feuer und Schutz gegen den kalten Wind wird es hier ganz schön ungemütlich werden. Wenn du es nicht für dich tun willst, dann denke wenigstens an die anderen. Viele sind verletzt und können kein Holz sammeln. Sie sind es, denen wir zur Seite stehen müssen.«
»Die anderen sind mir egal!«, rief Samui aus und ballte in hilfloser Wut die Fäuste. »Ich habe meine Eltern und Geschwister im Nebel verloren. Meine Frau und mein kleiner Sohn wurden im Sturm vom Meer fortgerissen. Wo waren die anderen, als ich ihre Hilfe gebraucht hätte? Wer hat mir geholfen? Niemand! Ich bin allein. Ich habe nichts mehr, für das es sich zu leben lohnt. Und ich werde keinen Finger für die rühren, die mich im Stich gelassen haben.«
»Ich verstehe deinen Kummer, aber nicht deinen Zorn. Du tust ihnen unrecht«, erwiderte Jamak mit bewundernswerter Ruhe. »Es ist keiner unter uns, der nicht traurige Verluste zu beklagen hat. Wir alle müssen …«
»Ich muss gar nichts!«, herrschte Samui Jamak an. »Gar nichts, hörst du? Und jetzt verschwinde. Lass mich allein.«
Noelani lauschte den Worten mit wachsendem Entsetzen. Sie hatte damit gerechnet, dass die Überlebenden verstört waren, aber nicht geahnt, wie schlimm es wirklich um sie stand. Hilfsbereitschaft und Güte waren die Grundpfeiler der Gemeinschaft auf Nintau gewesen, starke und mächtige Pfeiler, die in der Erziehung zu Respekt und Toleranz gründeten und das friedliche Miteinander der Inselbewohner über Jahrhunderte unerschütterlich gewährleistet hatten.
Die fünf jungen Frauen, die selbstlos ihr Leben gegeben hatten, um ihr Volk vor dem Dämon zu schützen, waren nur eines von vielen Beispielen, in denen Menschen die eigenen Wünsche und Bedürfnisse um der Gemeinschaft willen zurückgestellt hatten. Worte, wie der junge Mann sie gerade gewählt hatte, wären auf Nintau niemals gefallen. Doch wie es aussah, stand er damit nicht allein. Obwohl der Nachmittag rasch voranschritt, hatte kein einziger der Gestrandeten damit begonnen, Feuerholz zu sammeln. Die Vorräte und die Segeltuchballen lagen unberührt noch so am Strand, wie die Matrosen sie dort abgelegt hatten.
So tief sind wir also schon gesunken, dachte Noelani und beobachtete betroffen, wie Jamak von einem zum anderen ging, jeden ansprach und oft nur ein Kopfschütteln zur Antwort bekam. Andere reagierten wütend, und wieder andere antworteten gar nicht und starrten einfach nur weiter aufs Meer hinaus.
»Sie haben die Hoffnung verloren.«
»Kaori?« Noelanis Herz machte vor Freude einen Satz, und für einen Augenblick verblasste der Kummer über den erbärmlichen Zustand ihrer Landsleute. Obwohl sie wusste, dass sie ihre Schwester nicht sehen konnte, irrte ihr Blick suchend umher. »Kaori, bist du da?«
»Ich bin hier! Bei dir.«
Noelani spürte eine vertraute Kühle auf der Wange und wusste, dass ihre Schwester neben ihr stand. Für einen kurzen Moment erinnerte sie sich wieder daran, wie es sich anfühlte, glücklich zu sein. Etwas, das sie fast schon vergessen und verloren geglaubt hatte und das viel zu schnell wieder verflog.
»Es … es tut mir so leid«, hörte sie Kaori sagen.
»Was?«
»Dass ich dir nicht helfen konnte. Im Sturm. Da draußen«, gab Kaori zur Antwort. »Ich war die ganze Zeit bei dir. Ich sah den Sturm heraufziehen und wollte euch warnen, aber ihr habt alle geschlafen, und ich hatte keine Möglichkeit, mich bemerkbar zu machen. Es … es war furchtbar, alles mit ansehen zu müssen und nicht helfen zu können.«
»Du musst dir keine Vorwürfe machen«, erwiderte Noelani. »Auch wenn wir den Sturm früher bemerkt hätten, es hätte nichts geändert. Er war zu stark, und wir waren nicht darauf vorbereitet. Wenn einer von uns beiden Schuld an dem Unglück
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