Kristall der Macht
trägt, dann ich. Wir hätten niemals aufbrechen dürfen. Nicht so kurz vor Beginn der Regenzeit.«
»Du hast es nur gut gemeint.« Nun war es Kaori, die zu trösten versuchte.
»Das stimmt. Aber das ist keine Entschuldigung. Jetzt ist es zu spät. Was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen.« Noelani seufzte. »Alles, was ich noch tun kann, ist den Überlebenden Hoffnung auf ein besseres Leben zu geben.«
»Das wird nicht leicht werden.« Kaori ließ ein Seufzen ertönen.
»Warum nicht? Meinst du wegen der Flüchtlinge? Der Kapitän erzählte davon, dass es Menschen gibt, die dieses Land verlassen wollen. Er hielt uns wohl auch für Bewohner dieses Landes, darum brachte er uns hierher. Warum sie fliehen und wovor, darüber hat er nichts verlauten lassen.«
»Den Menschen hier geht es nicht gut«, erzählte Kaori. »Es herrscht Krieg. Offenbar steht ein fremdes und grausames Volk kurz davor, dieses Land zu erobern. Viele Menschen haben ihre Heimat verlassen und sind an die Küste geflohen, weil sie hier Schutz suchen und sich Hilfe erhoffen. Aber es gibt nicht genügend Nahrung für alle, und wie es aussieht auch nicht genügend Krieger, die die gefürchteten Barbaren aufhalten könnten.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Noelani. Was Kaori ihr da erzählte, war nicht eben dazu angetan, ihr Mut zu machen, und sie hoffte inständig, dass ihre Schwester sich täuschte.
»Ich war in der Stadt und habe die Menschen dort beobachtet«, sagte Kaori. »Während die Boote euch an Land brachten, habe ich mich vor und hinter den Stadtmauern umgesehen und konnte sogar ein Gespräch des Königs mit seinem General und einem Fürsten belauschen. Es ist, wie ich sage: Die Menschen hier leiden große Not und sind verzweifelt. Ich fürchte, sie werden euch nicht freundschaftlich gesinnt sein.«
»Ihr Götter, was müssen wir denn noch erdulden?« Noelani spürte, wie ihr Mut sank. Aber so schnell würde sie nicht aufgeben. Wenn es stimmte, was Kaori berichtete, wollte sie es mit eigenen Augen sehen. »Kannst du mich in die Stadt führen?«, fragte sie. »Ich will sehen, was du gesehen hast und hören, was du gehört hast. Ich muss es selbst erfahren, nur dann kann ich entscheiden, was zu tun ist.«
»Darum bin ich hier. Ich habe schon auf dich gewartet. Gib mir deine Hand.« Wie schon auf dem Weg zum Todesberg spürte Noelani auch diesmal eine Kühle in ihrer geisterhaften Handfläche, als Kaori sie berührte. »Folge mir«, hörte sie Kaori sagen. »Ich zeige dir, was ich herausgefunden habe.«
* * *
»Siehst du die vielen Freiwilligen? Hunger kann ungemein beflügelnd sein.« Mit einem breiten Grinsen betrachtete Fürst Rivanon von der Stadtmauer aus die Menschenmenge, die sich vor den Tischen gebildet hatte, an denen sich die Bewohner von Baha-Uddin für den Dienst bei den neuen Truppen des Landes registrieren lassen konnten.
»Ich sehe nur einen Haufen armseliger Gestalten, die für einen Laib Brot alles tun würden.« Triffin schüttelte verständnislos den Kopf. Er war erstaunt, wie schnell Fürst Rivanon alle erforderlichen Schritte eingeleitet hatte, um mit der Rekrutierung der Freiwilligen zu beginnen. Die Botschaften, die von den Herolden in den Flüchtlingslagern vor den Toren der Stadt verkündet worden waren, hatten schon auf dem Tisch in seinem Arbeitszimmer bereitgelegen, als sie von der Unterredung mit dem König zurückgekehrt waren, und waren im Nu verteilt gewesen. Angesichts der menschenunwürdigen Zustände in den Lagern war es nicht verwunderlich, dass die ersten Freiwilligen schon am Nachmittag vor der Stadtmauer gestanden hatten, um sich zum Dienst zu melden.
Doch auch darauf war der Fürst bestens vorbereitet gewesen. An diesem ersten Tag, so hatte er verfügt, sollten fünfhundert Freiwillige Nahrung und Kleidung aus den königlichen Beständen erhalten, um sich dann am nächsten Morgen mit einer Gruppe Berittener auf den Weg zum Gonwe zu machen.
Eine Vorhut war schon am frühen Nachmittag mit eigens dafür ausgerüsteten Planwagen aufgebrochen, um abseits des alten Heerlagers neue Unterkünfte für die erwarteten Freiwilligen zu errichten.
»Du hast es gewusst«, gab Triffin dem Fürsten seine Gedanken preis. »Du wusstest, dass der König die Rekrutierung befehlen würde – richtig?«
»Das war doch nicht schwer zu erraten.« Rivanon wirkte hochzufrieden. »Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sich zu diesem letzten Schritt entschließen würde.«
»Ich kann
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