Kristall der Macht
berichten. »Ich musste lediglich aufpassen, dass die Wachen mich nicht entdecken. Zum Glück ist der Nebel so undurchdringlich, dass sie mich nicht gesehen haben.«
»Gut gemacht«, lobte Rivanon. Er bemühte sich, ruhig und zuversichtlich zu wirken, aber Noelani konnte er nichts vormachen. Sie spürte seine Angst zu scheitern, als wäre es ihre eigene, und beneidete ihn nicht darum, die Verantwortung für das Gelingen des wichtigen Überfalls zu tragen, denn nur wenn alle Krieger ihre Aufgabe gewissenhaft erledigten, würde der Zauber gelingen.
Die Geduld der Wartenden wurde auf eine harte Probe gestellt. Von den beiden letzten Kriegern fehlte jede Spur. Dabei lag ihr Ziel nicht viel weiter entfernt als das der anderen. Am Nachmittag hatte Noelani Fürst Rivanon die ungefähre Form und Größe des Rakschunlagers aus dem Gedächtnis aufgezeichnet, so wie sie es bei ihrer Geistreise von oben gesehen hatte. Dabei hatte sie ein besonderes Augenmerk auf die Lage der Flöße und die Zelte mit den Waffen gelegt und betont, dass diese durch den breiten Streifen mit Baumaterial sehr gut vom Lager getrennt waren.
Die Krieger hatten die Anweisung erhalten, die Kristalle auf der dem Fluss zugewandten Seite dieser Grenze abzulegen. Noelani hatte lange überlegt, wie sie die Wachen vor den Zelten retten konnte, aber feststellen müssen, dass dies nicht möglich war, ohne das ganze Unterfangen in Gefahr zu bringen.
Jamaks eindringlichen Worten war es zu verdanken, dass sie sich schließlich schweren Herzens damit abgefunden hatte. Es war unumgänglich, dass der Zauber einige wenige Opfer aufseiten des Feindes fordern würde. Angesichts der vielen Krieger aber, die auf diese Weise nicht sterben mussten, war der Preis für den Sieg gering, und Noelani tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie alles dafür getan hatte, so viele Leben wie möglich zu retten. Sie war jetzt so weit gegangen und entschlossen, auch den letzten Schritt zu tun und den Zauber zu weben – selbst wenn andere dabei zu Schaden kamen.
»Endlich!« Fürst Rivanons Stimme riss sie aus ihren Gedanken, als auch der vierte Krieger wohlbehalten den Weg zurück gefunden hatte. Jetzt verfluchte sie den Nebel, der, wie es schien, noch dichter geworden war.
Alle warteten nun auf den fünften und letzten Krieger. Die Spannung wurde schier unerträglich. »Wenn ihm etwas zugestoßen ist?«, hörte Noelani einen Krieger murmeln. »Wenn sie ihn geschnappt haben und er den Kristall nicht ablegen konnte? Dann war alles umsonst.«
Der junge Mann sprach aus, was auch Noelani bewegte, aber noch wollte sie nicht an ein Scheitern denken. Es konnte doch nicht alles schiefgehen, was sie begann. Nicht hier. Nicht schon wieder.
Schier endlos tröpfelte die Zeit dahin. Der Nebel hüllte die Wartenden ein, und sie selbst hüllten sich in Schweigen. Nur einmal ging Fürst Rivanon fort, um nach dem gefesselten Sklaven zu sehen, aber der war noch nicht erwacht und stellte keine Gefahr dar.
Dann endlich – Schritte!
Die Krieger griffen nach den Waffen, unsicher, wer oder was sich ihnen da im Nebel näherte. Da trat der fünfte und letzte Krieger aus dem Dunst, verneigte sich leicht und sagte leise: »Es ist alles bereit, Ehrwürdige. Ihr könnt beginnen.«
»Danke.« Noelanis Mund war plötzlich ganz trocken. Die ganze Zeit hatte sie auf diesen Moment gewartet, gehofft und gebangt, und nun, da es endlich so weit war, übermannte sie Aufregung. Ihre Hand zitterte, als sie in die Tasche griff und einen schwarzen porösen Stein hervorholte, den Jamak von Nintau mitgenommen hatte. Er war nicht sehr massiv und verwitterte schnell, Eigenschaften, die ihr für das, was sie vorhatte, besonders geeignet erschienen. So würden die Flöße und Waffen der Rakschun nicht als Mahnmal der erlittenen Niederlagen bis in alle Ewigkeit am Ufer des Gonwe stehen, sondern von Wind und Wetter zu Staub zermahlen und mit dem Wasser davongetragen werden.
Den Stein fest in der linken Hand haltend, streckte sie die gespreizte rechte Hand dem Lager der Rakschun entgegen, schloss die Augen und konzentrierte sich. Mit allen Sinnen spürte sie nach dem dunklen Stein in ihrer Hand, erschuf sein Ebenbild vor ihrem geistigen Auge und wob die Worte, die man sie gelehrt hatte, um dieses Bild herum. Auch von diesem Stein ging eine ungeheure Kraft aus. Eine Kraft, die er vor Urzeiten in sich aufgenommen hatte. Damals, als Feuer und Glut ihn im Innern der Erde geboren und Wind und Regen an der Oberfläche ihm seine
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