Kristall der Macht
wagen – auch wenn ihn das vielleicht das Leben kosten würde.
Dann war der Nebel aufgezogen.
Zuerst hatte er noch gehofft, er würde nicht so dicht werden, aber seine Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Kaum eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang hatte der Nebel das andere Ufer und den größten Teil des Gonwe seinen Blicken entzogen und seine Pläne zumindest für diese Nacht zunichtegemacht.
Kavan nahm einen Stein zur Hand und schleuderte ihn weit auf den Fluss hinaus. »Verdammter Nebel. Verdammte Kälte. Verdammter Krieg!« Fast wünschte er sich, wieder Taro sein zu können. Ein einfacher Sklave ohne Vergangenheit und Zukunft, der nur das tat, was man ihm auftrug, dafür etwas zu essen erhielt und im warmen Zelt bei den Frauen schlafen durfte. Im Zelt bei den Frauen …
Halona!
Kavan seufzte, als er an die junge Gebärfrau Olufemis dachte, die ungeahnt zärtliche Gefühle in ihm geweckt hatte, obwohl er wusste, dass er sie niemals würde in die Arme schließen können. Halona, die er aus der Ferne bewundert und nie berührt hatte. Mit der er immer nur wenige Worte gewechselt hatte und die so stolz und schön war, wie es nur eine Königin sein konnte. Halona, die so entsetzlich gedemütigt worden war, die ein Kind ihres Peinigers unter dem Herzen trug und sich stark und klug in ihr Schicksal fügte, obwohl ihr Widerstand noch lange nicht gebrochen war.
Sie war immer freundlich zu ihm gewesen. Und obwohl er manchmal geglaubt hatte, ihre Blicke auf sich ruhen zu spüren, hatte sie ihm nie Hoffnung gemacht, dass sie seine Gefühle erwiderte. Keine Geste, kein Wort … Nichts hatte darauf hingedeutet, dass sie in ihm mehr sah als nur den schmutzigen, nach Dung stinkenden Sklaven. Er hatte sie trotzdem geliebt.
Jetzt war er frei und hatte seine Erinnerung wieder – glücklicher fühlte er sich nicht. In der alten Heimat hielt man ihn für tot, in der neuen würde man ihn töten, wenn seine wahre Identität herauskäme. Er war entwurzelt und allein und fest davon überzeugt, dass es nie einen einsameren Menschen gegeben hatte als ihn.
Wie wohl schon ein Dutzend Mal zuvor glitt seine Hand zu Boden. Die Finger ertasteten einen großen Stein und schlossen sich darum, und zwei Atemzüge später flog dieser in hohem Bogen durch Dunkelheit und Nebel, bis er weit draußen auf dem Fluss mit einem lauten Platschen niederging.
»Was war das?«
Drei Worte, mehr geflüstert als gesprochen, ließen Kavan zusammenzucken. Hastig blickte er sich um, konnte im Nebel aber nichts erkennen.
»Ein Fisch.«
»Schscht. Seid leise, verdammt. Wir sind gleich da.«
Kavan hielt den Atem an. Täuschte er sich, oder klangen die Stimmen vom Fluss zu ihm herüber? Er horchte und lauschte, atmete leise und wagte nicht, sich zu bewegen, aber niemand sprach mehr. Alles blieb ruhig – fast.
Als er schon glaubte, sich getäuscht zu haben, hörte er ein leises Platschen, als ob etwas in regelmäßigen Abständen ins Wasser getaucht und wieder herausgehoben wurde.
Ruder!
Kavans Gedanken überschlugen sich. Sein Herz raste. Da kam ein Ruderboot über den Fluss. Heimlich! Und es war schon ganz nah. Das Boot konnte nur aus Baha-Uddin stammen. Warum sonst verhielt sich die Besatzung so unauffällig? Prinz Kavan konnte sein Glück kaum fassen. Die Götter schienen es wirklich gut mit ihm zu meinen. Am liebsten wäre er aufgesprungen und hätte laut nach den Männern an Bord gerufen, aber etwas hielt ihn zurück.
Was ist, wenn sie mich für einen Rakschun halten?
Der Gedanke war gar nicht so abwegig, schließlich konnten die Männer im Boot nicht wissen, dass ihr verlorener Prinz hier einsam am Ufer saß und darüber nachdachte, wie er den Fluss überqueren sollte. Sie zu überraschen konnte leicht tödlich enden. Er musste vorsichtig sein. Prinz Kavan erhob sich so leise, wie es ihm möglich war, und wich langsam zur Böschung zurück. Keinen Augenblick zu früh. Kaum dass der Ufersaum vor ihm im Nebel verschwunden war, hörte er das leise Knirschen, mit dem der Rumpf eines Bootes auf das Ufer glitt.
»Bereit?«, hörte er eine flüsternde Stimme fragen, und fünf leise Stimmen antworteten gleichzeitig: »Bereit!«
»Dann los. Beeilt euch, aber seid vorsichtig.«
Steine knirschten unter Stiefelsohlen, als die Männer das Boot verließen und nahezu lautlos davonhuschten. Kavan wartete bangend, aber er hatte Glück; keiner der Männer schlug seine Richtung ein. Offenbar waren sie auf dem Weg zum Heerlager, das ein Stück weiter
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