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Kristall der Macht

Kristall der Macht

Titel: Kristall der Macht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Monika Felten
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diffuse Zwielicht, das ihr mehr offenbarte, als ihr lieb war. Auf dem Wasser trieben die Überreste abgestorbener Pflanzen und Tiere. Ein stinkender, von toten Fischen durchsetzter Teppich.
    Jamak hatte auch diesmal richtig vermutet: Das Meer und seine Bewohner waren von der todbringenden Wirkung des Nebels nicht verschont geblieben. Noelani nahm allen Mut zusammen, tauchte unter die Wasseroberfläche und bewegte sich dorthin, wo noch vor wenigen Tagen ein farbenfrohes Paradies aus bunten Korallen ihre Sinne erfreut hatte.
    Nichts war davon geblieben. Die Korallen waren tot. Bleich umkränzten sie das Riff, während tote Muscheln, Seesterne, Krebstiere und Seeigel am Boden davon kündeten, welch zerstörerische Macht hier Einzug gehalten haben musste.
    Noelani konnte den Anblick nicht länger ertragen. Sie tauchte auf, wohl wissend, dass sie die grauenhaften Bilder niemals würde vergessen können. Aber der grässliche Anblick bewirkte noch etwas anderes. Mehr denn je war sie entschlossen, nach der Ursache für das Sterben zu forschen.
     
    *  *  *
    »Noelani.« Zaghaft wob Kaori den Namen in das Zwielicht. Sie konnte ihre Schwester nicht sehen, nahm deren Geist aber als einen warmen, rötlichen Lichtschein wahr, der sich durch die Sphäre bewegte.
    Schon im Tempel hatte sie versucht, Noelani auf sich aufmerksam zu machen. Sie hatte nach ihr gerufen und sie berührt, aber solange sich Noelani in der Welt der Lebenden aufhielt, war es ihr unmöglich, sich bemerkbar zu machen. So hatte sie sich zurückgezogen und gewartet, bis Noelani die Vorbereitungen abgeschlossen hatte und die Geistreise begann.
    Als es endlich so weit war, hätte sie den entscheidenden Augenblick beinahe verpasst. Alles war so schnell gegangen. In Bruchteilen eines Augenblicks war das warme Licht über Noelanis Körper aufgestiegen und so schnell davon geschossen, dass Kaori ihm kaum hatte folgen können. Sie hatte all ihr Geschick aufwenden müssen, um Noelani nicht aus den Augen zu verlieren, deren Geist zielstrebig auf das Meer hinausschoss und dort in den Nebel eintauchte. Kaori war ihr wie ein Schatten gefolgt, immer darauf bedacht, den richtigen Moment abzuwarten, in dem sie Kontakt mit Noelani aufnehmen konnte. Als diese schließlich wieder auftauchte und innehielt, schien dieser gekommen.
    »Noelani, Schwester«, versuchte Kaori es noch einmal. »Hörst du mich?«
     
    *  *  *
    Noelani!
    Noelani zuckte zusammen. Hatte da jemand zu ihr gesprochen? Hier? Mitten im Nichts, an der Schwelle zum Tod? Unsinn. Energisch verwarf sie den Gedanken. Offenbar war sie schon so erschöpft, dass ihre Sinne …
    Noelani, Schwester. Hörst du mich?
    Obwohl ihr Körper weit entfernt war, spürte Noelani, wie ihr Herz heftig zu pochen begann. Kaori!, schoss es ihr durch den Kopf. Das ist Kaori. Sie ist hier.
    Sie kann nicht hier sein, hielt ihr Verstand dem dagegen. Das bilde ich mir alles nur ein. Kaori ist tot. Sie kann nicht …
    Noelani, Schwester …
    Da war sie wieder. Die Stimme aus dem Nichts. So zart und dünn wie aus weiter Ferne, aber auch so vertraut und voller Liebe, dass sie bei Noelani einen heftigen Sturm von Gefühlen auslöste. Ohne dass sie etwas dagegen unternehmen konnte, kehrte die Trauer um die geliebte Schwester zurück, die sie bisher kaum zugelassen und in Arbeit erstickt hatte. Kummer und Verzweiflung schienen nur auf einen Augenblick der Schwäche gewartet zu haben, um ihr die Seele mit scharfen Krallen zu zerfetzen, während sie machtvoll aus den Tiefen ihres Bewusstseins hervorstießen und sie übermannten, ohne dass sie etwas dagegen tun konnte.
    Fast hätte ihre Geistreise ein jähes Ende gefunden, wäre da nicht auch die Hoffnung gewesen, dass es wirklich Kaori war, die da zu ihr sprach, und das unbändige Verlangen, ihre Schwester wiederzusehen. Die vertraute Nähe zu spüren, sie zu hören …
    Mit einer enormen Willensanstrengung gelang es Noelani, den Gefühlen Herr zu werden, die wie ein heftiger Wolkenbruch alle auf einmal auf sie einstürmten und das brüchige Gleichgewicht, das ihr die Geistreise ermöglichte, zu zerstören drohten.
    So zaghaft und leise, als fürchte sie sich vor der Antwort, fragte sie: »Kaori? Kaori, bist du das?«
    Sie lauschte, horchte und betete um eine Antwort, aber nichts geschah, während ihr das Herz weit entfernt in der Brust hämmerte und der Verstand ihr immer wieder sagte, dass sie sich hatte täuschen lassen, weil sie sich so sehr nach der geliebten Schwester sehnte.

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