Kristall der Träume
von Doktor Mahmoud und Hans Roth in jenes Dorf reiste, das nur zehn Meilen weiter nördlich lag, aber dem siebzehnjährigen Mädchen vorkam wie eine andere Welt.
Dort suchte Katharina den Gasthof auf, in dem sie geboren worden war. Anschließend besuchte sie die Kirche, und der alte Priester erinnerte sich an eine Frau, die bei der Geburt ihres Kindes starb, eine Edelfrau, die nicht aus ihrer Gegend stammte. Sie lag im Kirchhof begraben. Auf dem Grabstein las Katharina das Todesdatum: Es war der Tag ihrer Geburt. Und der Familienname lautete von Grünewald.
Als Katharina neben dem Grab kniete, versuchte sie, etwas für jene Frau dort unter der Erde zu empfinden, doch es gelang ihr nicht.
Ihre Trauer galt der Näherin, die ihre wahre Mutter gewesen war.
Dennoch lagen hier die Gebeine jener Frau, die ihr das Leben geschenkt hatte, und nach und nach überkam Katharina ein seltsames, neues Gefühl. Sie legte ihre Hände auf den Grabstein der Maria von Grünewald, verstorben im Alter von sechsundzwanzig Jahren, und gelobte, nach ihrem Vater zu suchen, dem Mann jener bedauernswerten Frau, und ihre Familie zu finden. Ohne Rücksicht auf alle Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen würden.
Ganz Torbach redete von nichts anderem. Katharina Bauer brach auf nach Jerusalem!
Hans war todunglücklich: »Warum musst du denn unbedingt fort?« Da allein zu reisen nicht infrage kam, hatte Katharina als Erstes ihren Hans gebeten, sie zu begleiten, wozu er natürlich nicht in der Lage war, da man in der Manufaktur ohne ihn nicht auskam.
Als Nächstes hatte sie Bruder Pastorius gefragt, doch der arme junge Mann war für eine solche Reise nicht robust genug, so gern er die Heilige Stadt gesehen hätte. Schließlich wandte sie sich an Doktor Mahmoud, und auch er fand es sehr wichtig, dass Katharina ihren Vater kennen lernen und ihm Respekt erweisen wollte. Er selbst trug sich seit langem mit dem Gedanken, in seine Heimatstadt Kairo zurückzukehren, denn es war sein Wunsch, dort zu sterben. Er konnte die Reise auch nicht mehr lange aufschieben, da er bereits ein alter Mann war. Und so beschlossen die beiden, zusammen zu reisen.
»Ich habe ein Versprechen gegeben, Hans«, sagte Katharina mit fester Stimme, als sie ein letztes Mal im Wald von Torbach spazieren gingen. »Ich muss meine Familie finden.«
»Aber ich bin doch deine Familie. Wenn du mich heiratest…«
Sie fasste seine Hände und lächelte traurig. »Ja, ich weiß, Hans.
Aber mein Vater hatte die Absicht, mich zu sich zu holen. Dass er es nicht getan hat, kann nur daran liegen, dass ihm ein Unglück zugestoßen ist. Ich träume davon – ich sehe ihn allein und vergessen im Gefängnis schmachten oder krank in einem Dorf am Ende der Welt dahinsiechen. Ich muss ihn finden, das bin ich ihm schuldig.
Und meiner Mutter auch. Meinen beiden Müttern. Wenn ich ihn gefunden habe, werde ich zu dir zurückkehren.«
Meisterin Roth hatte niemals eine Person für gut genug befunden, um eines ihrer Kinder zu heiraten, und sah es stets mit großem Widerwillen, wenn sie vor den Traualtar traten. Insgeheim hatte sie gehofft, dass Hans, ihr Jüngster, nie heiraten würde. Jeder wusste, dass Meister Roth an einem Herzleiden litt und dass seine Gattin ihn dank ihrer robusten Gesundheit und ihres eisernen Willens um viele Jahre überleben würde. Die Aussicht behagte ihr gar nicht, einmal allein zu leben oder auf die Gnade einer Schwiegertochter angewiesen zu sein – gar auf die Tochter einer dahergelaufenen Näherin (Meisterin Roth glaubte keine Sekunde an die Geschichte vom reichen Edelmann). »Katharina muss gehen und ihren Vater suchen, mein Sohn«, sagte sie mit der größten Herzenswärme, die sie aufbringen konnte. »Das Schicksal hat es so gewollt.«
»Dann versprich mir, dass du zu mir zurückkehren wirst! «, brach es aus Hans mit einer solchen Leidenschaft hervor, dass es Katharina richtig peinlich war. »Tu, was du nicht lassen kannst, finde deinen Vater und schließ Frieden mit deiner Vergangenheit. Und dann komm zurück und werde meine Frau.«
Und so fügte sie den großen Versprechen, die sie ihren beiden Müttern am Totenbett und am Grab gegeben hatte, ein weiteres hinzu: Sie würde nach Torbach zurückkehren und Hans Roth heiraten.
Als der Tross der Kaufleute eintraf, war ganz Torbach auf den Beinen, um Katharina zu verabschieden. Frau Roth machte viel Aufhebens um die mit Silbertalern und Pfennigen gefüllte Geldbörse, die sie Katharina zum Abschied schenken
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