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Kristall der Träume

Kristall der Träume

Titel: Kristall der Träume Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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alle laut prustend auf die Schenkel schlugen oder sich die Tränen von den Wangen wischten oder angstvoll keuchten oder verwundert grunzten. Mochte die Nahrung an diesem See auch nicht sehr reichhaltig sein und das Wasser so modrig, dass selbst die Fische verendet waren – Dorn ließ die Menschen Durst und Hunger vergessen, wenn er einmal mehr die komische Geschichte erzählte, wie er zu seinem Namen gekommen war.
    Eines Abends überraschte er sein Publikum damit, dass er sich plötzlich in einen anderen verwandelte.

    Er erhob sich von seinem Platz am Feuer und fing an, seltsam verrenkt darum herumzutanzen – den linken Arm in Brusthöhe angewinkelt, das linke Bein nachziehend. Zunächst waren die Zuschauer verwirrt, dann schnappten sie nach Luft. Dorn war nicht mehr von Skorpion zu unterscheiden! Erschrocken sahen sie sich nach Skorpion um – hatte er sich etwa Dorns Körper bemächtigt?
    Aber nein, Skorpion, dessen linke Seite zunehmend gefühlloser wurde, sodass er den linken Arm und auch das Bein kaum noch gebrauchen konnte, saß weiterhin auf seinem Platz und starrte Dorn wie versteinert an. Und ehe sie sich’s versahen, nahm Dorn eine andere Haltung ein: Er wiegte sich in den Hüften und tat, als würde er sich gierig den Mund voll stopfen. Honigfinderin!
    Nüster stieß einen wütenden und gleichzeitig angstvollen Schrei aus, aber ein paar Kinder lachten auf. Und als Dorn dann an seinem langen, verfilzten Haar zupfte, bis es von seinem Kopf abstand, und mit gezierten kleinen Schritten herumtänzelte – und jeder sofort Baby darin erkannte –, fingen auch andere an zu lachen. Es dauerte nicht lange, bis die ganze Familie vor Vergnügen johlte, schon weil Dorn immer wieder Neues bot. Sein schleppender Gang und wie er prüfend einen Stock besah hatte zur Folge, dass prompt alle
    »Schnecke! « riefen und gleich darauf, als er sich den Rücken an einem Baum schabte, »Beule!«. Und als er einen kleinen Jungen Huckepack nahm und dessen Ärmchen und Beinchen unter seinem Kinn beziehungsweise um seine Mitte verschränkte, um auf diese Weise die stinkende Haut zu veranschaulichen, die Löwe trug, hielten sich alle die Bäuche und kreischten vor Begeisterung. Dorn war glücklich, sie in derart gute Laune zu versetzen. Diese Familie war seiner eigenen nicht unähnlich: Auch sie war ständig auf Nahrungssuche, folgte vertrauten Pfaden, lebte in gleichen Strukturen: Frauen und Kinder bildeten eine Gruppe, die Männer eine andere, und dennoch waren sie alle auf das Überleben der gesamten Familie bedacht. Alte Mutter erinnerte ihn mit ihren krummen Beinen, den schlaffen Brüsten und wie sie zahnlos an ihrem Essen mummelte an Weide in seiner Familie, bei Nüster und Brocken musste er an seine Geschwister denken, mit denen er als Kind herumgetobt hatte.
    Und dann war da noch die Große.
    Sie war anders als die anderen, nicht nur größer, sondern auch besonnener. Er merkte, wie argwöhnisch sie den rauchenden Berg in der Ferne beobachtete, wie sie die Brauen runzelte beim Anblick der schwarzen Wolken, die sich am Himmel ballten. Dorn selbst nahm dieses Phänomen mit Unbehagen zur Kenntnis. Mehr noch als von ihrer scharfen Beobachtungsgabe und den Schlussfolgerungen, zu denen sie gelangte, fühlte sich Dorn von ihrem kräftigen Körper, ihren langen Gliedmaßen und ihrem stolzen Gang angezogen. Er mochte ihr Lachen und dass sie Rücksicht auf Schwächere nahm und dafür sorgte, dass jeder etwas zu essen bekam. Sie erinnerte ihn an die Frauen in seiner eigenen Familie.
    Warum er seine Familie verlassen hatte, wusste Dorn nicht. Eines Morgens war eine Rastlosigkeit über ihn gekommen, die er sich nicht hatte erklären können. Er hatte zu seinem Faustkeil und seiner Keule gegriffen und war aufgebrochen, nicht anders als andere vor ihm auch: Kurzer Arm, der Bruder seiner Mutter, und Einohr, Dorns älterer Bruder. In jeder Generation wurde eben der eine oder der andere in Dorns Familie von der Wanderlust gepackt; und wer einmal loszog, kehrte niemals zurück.
    Mit gemischten Gefühlen hatte Dorn seine noch schlafende Familie verlassen. Beim Gedanken an die Frau, die ihn geboren hatte, oder an seine Schwestern, war ihm das Herz schwer geworden.
    Als er jetzt die so verführerisch wirkende Große betrachtete, wurde ihm nicht bewusst, dass der eigentliche Grund für seinen Aufbruch der Mangel an willfährigen Frauen gewesen war, der ihn instinktiv zum Weggehen getrieben hatte, der gleiche Instinkt, der junge Männer aus

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