Kristall der Träume
anderen Familienverbänden über Generationen hinweg immer wieder einmal bewogen hatte, sich Dorns Familie anzuschließen. Dorn hatte sich nicht verabschiedet. Mit der Zeit würden seine Leute ihn vergessen, nicht anders als er sie.
Der See war schließlich derart verschmutzt, dass auch die letzten Enten verschwanden und die Familie zum Weiterziehen gezwungen wurde.
Die Lebensbedingungen verschlechterten sich zusehends.
Verendete Tiere, auf die die Familie unterwegs stieß, deckten zwar noch für eine Weile den Fleischbedarf, aber je weiter sie nach Westen vorstieß, desto häufiger kam sie an zahllosen bereits in Verwesung übergegangenen Kadavern von Elenantilopen und Weißschwanzantilopen, von Elefanten und Nashörnern vorbei, deren Gestank die Luft verpestete, ganz zu schweigen von den dichten Schwärmen schwarzer Fliegen, die überall herumschwirrten. An eine kräftigende Mahlzeit war nicht mehr zu denken. Für die Große stand fest, dass die Herden verendeten, weil die Vegetation unter einer Schicht Asche und Schlacke erstickte. Lediglich Aasfresser, die Schakale und Hyänen und Geier, kamen auf ihre Kosten und wurden rund und fett. Die Große und Dorn waren sich einig darin, dass zwischen dem Vulkan und dem Tiersterben ein Zusammenhang bestand. Aber Löwe beharrte darauf, dass die Familie auf der Suche nach Wasser und Nahrung die eingeschlagene Richtung beibehielt.
Mit jedem Tag wurde das Wasser an den Trinkstellen, an denen sie vorbeikamen, schlechter. Auch Nahrung war kaum noch aufzutreiben – die kleineren Tiere waren verschwunden und alles Grün unter Ruß begraben. Der Himmel verdunkelte sich zusehends, und immer häufiger rumorte die Erde. Jeweils zu Sonnenuntergang beobachtete Große beklommen den rauchenden Berg und wurde sich immer deutlicher bewusst, dass Löwe sie ins Unheil führte. Die Milch in den Brüsten der jungen Mütter versiegte. Säuglinge starben.
Nachdem Wiesel ihr totes Kind tagelang mit sich herumgeschleppt hatte, hockte sie sich schließlich neben einen Termitenhügel, der noch vor Tagen der Familie einen Festschmaus beschert hätte, jetzt aber unverständlicherweise wie ausgestorben war. Hier blieb sie mit ihrem Baby sitzen, während die Familie den Weg fortsetzte.
Eines Nachts fuhr die Große aus unruhigem Schlaf hoch. Sie hatte geträumt, wie Dorn seine Possen getrieben und sie angelächelt hatte. Eine nie zuvor gekannte Hitze stieg in ihr hoch, gepaart mit einem Verlangen, das wie Hunger war und dennoch nichts mit der Gier nach Essbarem zu tun hatte. In der Ferne heulte ein Hund, und dann sah die Große eine Gestalt durch das schlafende Lager schleichen. Dorn. Was er wohl vorhatte? Vielleicht wollte er nur seine Notdurft verrichten. Oder aber in ihr Bettnest kommen. Dorn jedoch schritt geradewegs durch das Lager und hinaus auf die offene Ebene. Die Große folgte ihm, allerdings nicht weiter als bis zu den zum Schutz in die Erde gerammten Fackeln und der Einfassung aus Akazienzweigen, wo Schnecke und Skorpion Wache hielten. Dort wartete sie auf Dorns Rückkehr. Bei Tagesanbruch war er noch nicht wieder da, und die Familie brach ohne ihn auf. Nach vier Tagen hatte sich Dorn noch immer nicht wieder blicken lassen. Die Große weinte in ihrem Bettnest in sich hinein, weil sie annahm, der so bezaubernde Fremde sei tot. Warum nur war er fortgegangen, wo ihn die Familie doch mit offenen Armen aufgenommen hatte? Die Leidenschaft, die er in der Großen geweckt hatte, wich Kummer und Schmerz –
Empfindungen, die der jungen Frau bislang unbekannt waren.
Und dann tauchte er plötzlich wieder auf. Mit dem Rücken zur nach Westen geneigten Sonne sprang er auf einem Hügel hin und her und fuchtelte mit den Armen herum. Die Familie deutete seine Rufe und Gesten als gutes Zeichen und eilte ihm entgegen. Er bedeutete ihnen, ihm zu folgen, und alle zogen hinter dem jungen Mann her, der sie einen gewundenen und jetzt ausgetrockneten Wasserlauf entlang und über einen weiteren Hügel durch eine enge Felsschlucht führte. Und nachdem sie eine kleine Anhöhe erklommen hatten, wies er stolz auf das, was er entdeckt hatte. Ein Tamarindenwäldchen.
Und alles an diesen Bäumen war essbar. Wie ein Schwarm Heuschrecken ließen sich die Menschen im dichten Blattwerk der hohen Bäume nieder, griffen nach den vollfleischigen, saftigen Samenkapseln, zupften die Blätter ab, machten sich an der Rinde zu schaffen, stopften sich die Münder voll, so lange, bis aller Hunger und Durst gestillt waren.
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