Kristall der Träume
Füße in Fellstiefeln, ihr acht Monate altes Baby auf dem Rücken in einem Tragesack aus Schaffell, auf einem windigen Hügel stand.
Laliaris kleine Söhne Vivek und Josu steckten in warmen kleinen Umhängen und Beinkleidern aus weichem Gazellenleder. Mit dem Gazellengeweih, dem Zeichen ihrer Würde, auf dem Kopf, stand sie auf dem Hügel und hielt Ausschau nach den ersten Früchten des Frühlings. Für die wilden Knoblauchzwiebeln unten am Fluss, die ihre Leute besonders zu schätzen gelernt hatten, war es noch zu früh.
Sie betastete die grünen Früchte an dem uralten stämmigen Feigenbaum. Es würde noch einen weiteren Mondzyklus dauern, bis der Clan die süßen Feigen würde kosten können. Doch dann entdeckte sie die ersten reifen Beeren eines Maulbeerbaums und begann sie zu pflücken.
Während sie die Beeren in ihren Korb legte, trug der Wind einen zarten Duft zu ihr herüber – er kam von der blauen Hyazinthe, die zu Tausenden auf den Wiesen und Hügeln blühte, und von den Narzissen, deren schneeweiße Blüten in der Sonne blitzten. Nach den langen dunklen Wintermonaten in den verräucherten Höhlen waren die Angehörigen des Gazellenclans für jedes Zeichen einer Wiederauferstehung der Natur dankbar.
Voller Glück betrachtete Laliari ihre Kinder. Ihre kleine Tochter schlief friedlich im Tragesack, und ganz in der Nähe spielten ihre beiden Söhne im hohen Gras.
Ihr Ältester, der sechsjährige Vivek, wies mit seinen schweren Augenbrauen und den kräftigen Kieferbacken eine auffallende Ähnlichkeit mit Zant auf, und das verwunderte Laliari nicht, war es doch seine Fruchtbarkeitsstatue gewesen, die ihr dieses Kind geschenkt hatte. Laliaris zweiter Sohn, ein aufgeweckter Vierjähriger, hatte goldbraune Locken und pummelige Arme und Beine. Morgen war sein großer Tag, man würde ihm Nase und Lippen durchbohren, um die bösen Geister zu bannen, und bei dem anschließenden Fest würde er seine eigene kleine Axt und eine Muschelhalskette mit Glücksbringern bekommen.
Die Schrecken der ersten Zeit in diesem Land waren praktisch vergessen, und mittlerweile hatte der Clan seine neue Heimat lieben gelernt. Laliaris Gedanken wanderten zu Zant. Sie hoffte von ganzem Herzen, dass er jetzt bei seinen Leuten glücklich war und mit ihnen auf die Jagd ging. Die Höhle, in der sie ihm begegnet war, hatte sie nie wieder betreten, denn dort lag ein Kind begraben, und Bellek hatte die Höhle für tabu erklärt.
Ein helles Pfeifen ließ sie aufblicken. Keeka kam den Hügel herauf. Trotz des kalten Windes ging sie barbusig, um eine wunderschöne Halskette aus Strandschnecken, die einer der Jäger für sie gefertigt hatte, zur Schau zu stellen. Keeka hatte mit den Jahren wieder an Gewicht zugelegt, denn seit der Clan hier am See siedelte, hatte sie ihre alten Gewohnheiten wieder aufgenommen und angefangen, Nahrung zu horten.
Doch zu Laliaris Überraschung kam sie diesmal, um zu teilen.
Keeka reichte ihr einen Korb mit kräftigen grünen Blättern und erklärte, sie hätte eine köstliche neue Pflanze gefunden. Laliari bot Keeka zum Dank ihre Maulbeeren an, worauf diese mit einem zufriedenen Lächeln davonzog. Laliari kostete von der neuen Pflanze, fand den Rhabarbergeschmack jedoch uninteressant. Ihren quengelnden Söhnen gab sie jeweils ein Blatt zum Spielen, aber Vivek verzog das Gesicht und spuckte den Bissen sogleich wieder aus, während Josu glücklich an seinem Stück knabberte. Mit zwei Körben voller Maulbeeren kehrte Laliari zum Lager zurück, wo die anderen Frauen ebenfalls ihre Ernte einbrachten: Löwenzahn, wilde Gurken, Koriandersamen und Taubeneier und eine gute Ladung Binsen, die sie zum Korbflechten brauchten. Die Männer trugen Fische herbei, Körbe voller Napfschnecken und zwei frisch gehäutete Ziegen.
Unter rituellen Gesängen wurde das Fleisch zerteilt und gebraten und dann den Regeln entsprechend an die Stammesmitglieder verteilt. Laliari stillte ihr Baby, Vivek schlürfte an einem Eigelb, und Josu knabberte unbekümmert an seinem Rhabarberblatt. Jemand hatte Winterweizen mitgebracht, und so hockten sie um die Feuerstelle, hielten die gebündelten Stängel in die Flammen, bis die Ähren geröstet waren und die Körner herausfielen. Nach dem Essen machten die Frauen sich ans Korbflechten, während die Männer ihre Steinwerkzeuge schärften und die Jagdausbeute erörterten. Erst da fiel Laliari auf, dass Josu über Schmerzen im Mund klagte, und als sie die wunden Stellen an seinen Schleimhäuten
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