Kristall der Träume
mit ihrem Grabstock zu graben.
Am Höhleneingang drängten sich die anderen, starrten, raunten und flüsterten, aber keiner wagte sich hinein. Schließlich legte Laliari ihren toten Sohn in die Grube und bettete ihn so, dass er aussah, als ob er schliefe. Dann erhob sie sich, ging durch die gaffende Menge nach draußen und machte sich daran, zwischen Felsen und Steinen Wildblüten und Kräuter zu sammeln, trug ihre duftende Ernte in die Höhle und streute die Blüten über Josus Leichnam. Dann füllte sie die Grube mit Sand auf, bis der Kinderkörper bedeckt war, und klopfte zum Schluss den kleinen Hügel glatt.
Am Höhleneingang stand Vivek neben Doron. Laliari führte ihren Sohn zu dem kleinen Grab und sagte feierlich zu ihm: »Du musst keine Angst haben. Dein Bruder schläft jetzt. Er ist vor Geistern und jedwedem Unglück sicher. Und dir kann er auch nichts tun. Sein Name ist Josu, und du wirst ihn nie vergessen.« Die Umstehenden hielten den Atem an. Laliari hatte den Namen des Toten ausgesprochen!
Es kümmerte sie nicht, was die anderen dachten oder dass Bellek totenblass geworden war. Das Einzige, was sie empfand, war eine grenzenlose Erleichterung, ihr Kind sicher in der Nähe seiner Familie zu wissen.
Als sie schließlich aus der Höhle ins Mondlicht trat, hielt Laliari die Figurine in die Höhe. Alle verstummten und lauschten der Hüterin des Gazellengeweihs. »Die Mutter schenkt Leben, und zur Mutter kehrt das Leben zurück. Es steht uns nicht zu, diese Gabe, die sie uns geschenkt hat, zu vergessen. Vom heutigen Tage an sind die Namen der Toten nicht mehr tabu.«
Laliari war sich durchaus bewusst, dass es für ihre Leute nicht leicht sein würde, mit einem Generationen alten Gesetz zu brechen, dennoch blieb sie hart. Ihr Volk sollte nicht weiterhin ohne Trost bleiben, wie sie und ihre Frauen es einst erlebt hatten, als sie um ihre ertrunkenen Männer trauerten. Die Toten durften nicht vergessen werden. Das hatte sie von einem Fremden namens Zant gelernt.
Interim
Nach diesem Vorfall fürchteten sie sich eine Zeit lang vor Laliari.
Als den Clan jedoch kein Unglück traf, nachdem sie den Namen ihres toten Kindes ausgesprochen hatte und ihnen zudem das neue Jahr eine überreiche Ernte bescherte, begannen sie sich zu fragen, ob Laliari über besondere Kräfte verfügte. Im darauf folgenden Frühling starb Bellek, und während der »stillen Wache« sprach Laliari seinen Namen, würdigte seine Taten, erzählte von seinem langen Leben. Sie ließ ihn neben Josu begraben. Und als nach diesem erneuten Tabubruch immer noch kein Unglück geschah, verloren sie allmählich ihre Scheu und begannen, die Namen all jener Söhne und Brüder auszusprechen, die vor langer Zeit durch die Hand der Eindringlinge umgekommen waren. Nachdem sie nicht mehr von Geistern verfolgt wurden und auch die Nahrungsquellen in ihrem Tal nicht versiegten, vergaßen die Leute allmählich das alte Tabu, und von den Toten zu sprechen wurde ein Bestandteil ihrer ehemals
»stillen Wache«. Und weil die Statuette mit dem wundersamen blauen Kristall Laliari diese neuen Gesetze gelehrt hatte, wurde es zur Gewohnheit, die Figur bei jeder Gedenkrunde im Kreis weiterzureichen, sodass jeder sie halten konnte, während er Worte des Lobes und des Gedenkens über den Verstorbenen sprach.
Als Laliari viele Jahre später neben ihrem Sohn zur letzten Ruhe gebettet wurde, saßen die Clansmitglieder in der Runde, und ein jeder schilderte seine Erinnerungen an die greise Hüterin des Gazellengeweihs, am liebsten aber sprachen sie von jener lange zurückliegenden Zeit, als Laliari ihrem Volk den Mond und die Fruchtbarkeit zurückgebracht und sie gelehrt hatte, die Toten zu ehren.
Nach dem Aussterben jener Menschen, die die Wildtiere fast bis zur Ausrottung gejagt hatten, erholte sich die Natur im Jordantal allmählich wieder. Das Volk des Gazellenclans folgte den Herden, ging mit den Jahreszeiten, verbrachte den Sommer an kühlen Quellen im Süden und den Winter in warmen Höhlen im Norden.
Doch wo immer der Clan auch hinzog, führte er die kleine Fruchtbarkeitsstatue mit sich.
Das Wunder des blauen Kristalls lag in seiner Schönheit. Wäre es ein gewöhnlicher Jaspis oder ein stumpfer Karneol gewesen, wäre er sicherlich irgendwann vergessen worden oder verloren gegangen.
Doch sein erstaunliches Funkeln betörte die Menschen immer wieder aufs Neue, sodass dieser strahlende Klumpen kosmischen Staubes von einer Generation zur nächsten weitergereicht
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