Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
bevor er Sex hatte - das war der Gedanke, der ihn veranlasste, nach den Kondomen in seiner Tasche zu greifen.
Er wollte die ganze Diskussion als unwichtig und lächerlich verdrängen. Und er war sicher, dass er das vor der Operation einfach hätte tun können. Er hätte Madelaine bei einem Konzert oder einer Filmpremiere begegnen können, hätte von dem so wundervollen Kind gehört, das sie vor sechzehn Jahren geboren hatte und nichts dabei empfunden. Weniger als nichts.
Er hätte ihr einen großen Tequila angeboten und auf das Kind angestoßen, das er gezeugt hatte. Aber das wäre auch schon alles gewesen. Nach dem Tequila hätte er die Bühne sofort verlassen.
Langsam dämmerte ihm, dass Wegrennen nichts brachte, dass man manchmal genau an dem Punkt anlangte, von dem aus man gestartet war.
Jetzt hielt er sich nicht mehr für unsterblich. Wie könnte er das auch - mit dem Herz des Fremden, das in seiner Brust schlug, und der hellroten Frankensteinnarbe in seinem Fleisch? Jedes Mal, wenn er eine Spritze bekam oder eine Pille einnahm, wurde er daran erinnert, dass er allein durch die Gnade Gottes noch lebte - und durch das Geschenk eines Fremden. Es war die Art von Dingen, die einen Menschen dazu brachten, über sein Leben nachzudenken - selbst wenn er das nicht wollte.
Noch vor der Operation war er es leid gewesen, ständig zu rennen und nirgendwohin zu gelangen, war der Partys müde mit all diesen Frauen, an die er sich nicht erinnern konnte, und der Freunde, die verschwanden, sobald die Kameras sich abwandten. Aber er wusste nicht, was er sonst machen sollte.
Er hatte sich selbst nie ein eigenes Leben geschaffen, kein wirkliches gottgefälliges Leben. Er hatte eine Existenz - eine Eigentumswohnung in einem Hochhaus in Las Vegas, Freunde, die ebenso schnell kamen und gingen wie Filmrollen, Autos, die er ein Jahr lang fuhr und dann wechselte, eine Arbeit, die ihn in Geld schwimmen ließ. Er musste allenfalls vier Monate im Jahr arbeiten.
Was hatte er die restliche Zeit getan? Daran konnte er sich jetzt kaum erinnern. Wenn er über sein Leben nachdachte, fielen ihm nur zufällige Bilder von Partys und Katerstimmungen ein.
Er wollte sich an seine Anfangszeit erinnern, als er ein ernsthafter Schauspieler gewesen war, der von einem mörderischen Vorsprechen zum nächsten gegangen war und Shakespeare im Park gespielt hatte. Aber das war eine erfundene Geschichte -die Fiktion, die er der Presse vorgesetzt hatte, als die Person des Angel DeMarco erschaffen wurde, zusammengesetzt aus Schnipseln von Realität und Unmengen von Phantasie.
Die traurige Wahrheit war, dass er überhaupt nicht schauspielern konnte. Beim ersten Vorsprechen war er wegen seines Aussehens genommen worden - einem Vorsprechen, zu dem er einfach hingegangen war. Vals Mutter hatte einem Produzenten erzählt, dass ihr Sohn Agent sei und - voilä! Val war Agent. Und als Val Agent wurde, dauerte es nur Sekunden, bis Angel ein Schauspieler wurde.
Vielleicht wäre diese erste Rolle gar nicht so schlecht gewesen, wenn er nur ein bisschen Schauspieler gewesen wäre und darin eine Berufung gefunden hätte, aber er war der Star und der Film spielte über 150 Millionen Dollar ein. Danach hätte man ihn Othello spielen lassen, wenn er es gewollt hätte. Ein Star war geboren.
Er runzelte die Stirn, überlegte, warum er nicht härter gearbeitet hatte, um sein Handwerk zu lernen. Warum hatte er den Funken Talent, den die Kritiker in ihm sahen, nicht genutzt und daraus etwas Besonderes gemacht?
An die Gründe konnte er sich nicht erinnern. Selbst die Umstände und Chancen begannen zu verschwimmen. Sein Leben vor dem Herzanfall erschien ihm allmählich wie eine flüchtige Erinnerung, die einem anderen gehörte.
Und doch erinnerte er sich glasklar an Dinge wie den Jahrmarkt.
Ein Traum, den du vergessen hast, Angel. Hast du mich vergessen?
Das hatte er. Bis er in diesem verdammten Krankenhaus in Oregon aufgewacht war, hatte er Madelaine praktisch vergessen. Ihre gemeinsame Zeit war zu einer verschwommenen Erinnerung an die erste Liebe geworden, wie alle Jugenderinnerungen in das zerfetzte Sammelalbum der Seele geheftet worden. Jetzt aber fühlte sich das, was sie verband, real an, so wirklich, dass er es berühren konnte. Vielleicht das einzig Wirkliche in seinem ganzen Leben.
Sie wollte, dass er für ihre Tochter ein Vater war. Es war das Einzige, worum sie ihn je gebeten hatte.
Sie braucht dich , hatte Madelaine gesagt.
Gott helfe ihm, aber er wusste
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