Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
»Eine schlagfertige Antwort, Angel. Was tust du als Nächstes - wirst du mir die Zunge rausstrecken?«
»Überspann es nicht.«
»Du machst das Leben für jeden auf dieser Etage zur Hölle.«
Er schaute sie freudlos an. »Was glaubst du, wie das für mich ist? Ich liege hier jeden Tag, werde durchstochen und abgeklopft und kontrolliert, als sei ich ein Stück Fleisch auf einem Förderband. Und ich träume weiter...« Seine Stimme wurde leiser und er wandte sich von ihr ab. »Geh weg, Mad.«
Sie rückte näher. »Was ist denn, Angel?«
Er wartete ein paar Augenblicke, bevor er antwortete. »Ich träume immer wieder von Francis. Die Träume fangen alle verschieden an, aber sie enden gleich. Wir reden kurze Zeit und dann beugt er sich über mich. Ich kann fühlen, wie mein Herz in meiner Brust schlägt, wie ein gefangener Vogel, der gegen ein Fenster stößt. Er flüstert etwas - ich kann mich nie erinnern, was es ist - und dann nimmt er meine Hand und verschwindet. Aber das ist nicht alles. Es ist, als ... sei er in mir. Gestern bat ich die dicke Oberschwester, Betty Boop oder wie sie heißt, einen anderen Radiosender einzustellen. Ich bat sie, etwas von den Beatles einzustellen.« Er seufzte. »Die Beatles, um Himmels willen. Vor der Operation habe ich nichts außer Hard Rock gehört - du weißt schon, diese Art von Musik, bei der man sich nur die Klamotten ausziehen und sich ganze Busladungen Kokain reinziehen will. Und jetzt will ich >Yesterday< hören.« Er blickte zu ihr auf und diese Augen, die immer so voller Leben gewesen zu sein schienen, wirkten trüb und farblos. »Ich hab das Gefühl, ich verliere meinen verdammten Verstand, Mad.«
Sie saß sehr still da. Ihr eigener Herzschlag flatterte in ihrer Brust. Es war durchaus üblich, dass Transplantationspatienten glaubten, von der Persönlichkeit des Spenders vereinnahmt zu sein, aber Angel wusste nicht, dass er Francis' Herz hatte. Er sollte diese Dinge nicht fühlen. Es war medizinisch nicht möglich. »Wir haben eine wundervolle Psychiaterin im Team, Angel. Sie weiß, was du durchmachst - es ist ganz normal -, und sie würde sich freuen, mit dir zu reden.«
»Das hat mir gerade noch gefehlt, noch eine Ärztin. Ach ja, das Beste hast du noch gar nicht gehört. Letzte Nacht habe ich um ein Glas Milch gebeten.«
Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Fettarme Milch ist gut für dich.«
»Wenn du mich hier mit ärztlichem Geschwätz voll sülzen willst wie irgendein medizinischer Kommunist, dann kannst du dich zum Teufel scheren. Ich versuche, mit dir zu reden, Mad. Ich versuche, dir zu erzählen ...« Er stieß einen schweren Seufzer aus und fuhr sich mit einer Hand durch das wirre Haar. »Ist ja auch egal.«
Sie rückte näher. »Was?«
Er schaute zu ihr auf und die Traurigkeit in seinen Augen brach ihr fast das Herz. »Ihr Ärzte bietet mir ständig >Leben< an, als ob das eine Bombenrolle in einem Streifen von Spielberg sei, aber es ist nicht mein Leben, Mad. Dieses Herz ist wie ein Schuh, der nicht richtig passt. Es lässt mich nie vergessen, dass ich nicht mit ihm geboren wurde. Vielleicht, wenn Francis lebte oder ich jemand hätte, mit dem ich reden könnte, jemand, der meine Hand nehmen könnte und mir helfen würde, mich irgendwohin führte ... ich weiß nicht. Ich fühle mich wie ein Monster.«
Sie streckte eine Hand nach ihm aus, ergriff seine und drückte sie sanft. »Ich bin für dich da, Angel.«
Er versuchte zu lächeln. »Ich will dich nicht kränken, Mad, aber du bist wie eine Fata Morgana, die ich sehen, aber nicht berühren kann. Manchmal denke ich, ich hätte unsere gemeinsame Zeit nur geträumt. Dieser verrückte, verknallte Junge könnte ich nicht gewesen sein. Nein, der Junge, der auf einer brandneuen Harley aus der Stadt gedröhnt ist, dieser Junge war ich.«
Sie starrte auf ihn hinab, sah den Schmerz und die Einsamkeit, die in seinen grünen Augen spukten. In diesem Moment sorgte sie sich so sehr um ihn, dass das Gefühl fast wie ein Schmerz in ihrer Brust war. Er litt jetzt, trauerte um sich und seinen Bruder, den er verloren hatte. Sie wusste, was für ein Gefühl es war, plötzlich jemand zu verlieren. Alles, was einem blieb, war Glaube, und wenn man den nicht hatte, konnte einen die Leere völlig verschlingen.
Und Angel hatte nie wirklich an etwas geglaubt, am allerwenigsten an sich selbst.
»Ein Traum, den du im Lauf der Zeit vergessen hast.« Sie beugte sich zu ihm. »Hast du mich vergessen, Angel?«
In der
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