Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
Füße fest auf den Boden und macht einen kleinen Tritt. Die Schaukel fängt an, sehr langsam zu schwingen, sich unter ihm zu wiegen. Er hört das leise, knarrende Winseln ihrer Bewegung.
Auf dem Hof hält Madelaine inne. Ihre Arme sind voller dunkler Kerzen, ihre Augen - ihre wundervollen verschleierten grünen Augen - sind auf die Verandaschaukel gerichtet. Er spürt die Wärme ihres Blickes auf sich, sie wird stärker und stärker, bis sie so heiß ist, dass er das Gefühl hat, dahinschmelzen zu müssen. Sonnenlicht umgibt ihn von allen Seiten, funkelt auf dem frisch gefallenen Schnee, hüpft von den weißen Zaunpfosten, fällt aus einer blauen Lücke in den Wolken. Es ist, als ziele die Sonne auf ihn. Und sie wärmt ihn. Oh, wie sie ihn wärmt.
»Sieh doch«, sagt Angel leise, legt seinen Arm um Madelaines Hüfte und zieht sie dicht an sich.
»Die Verandaschaukel«, sagt Lina und tritt zu ihren Eltern.
Gemeinsam gehen sie auf ihn zu. Er kann ihre Blicke auf sich spüren und er möchte triumphierend singen. Er konzentriert sich sehr und erhebt sich und erhebt sich weiter.
Er spürt, wie das Lachen in ihm aufsteigt und sich dann überallhin verstreut, während er über dem Boden schwebt, schwerelos und frei. Er hört sein Gelächter in Dutzenden von Geräuschen - dem Geschnatter der Vögel, dem Knarren der Schaukel, dem Fallen des Schnees von überladenen Ästen. In der Ferne erwacht ein Schneepflug zum Leben und auch darin hört er sein Lachen.
Und durch all dies kann er sein altes Herz in Angels Brust schlagen hören und schlagen und schlagen wie das gleichmäßige Säuseln des Windes, wenn er durch die Blätter weht.
Zum ersten Mal in seinem Leben hat er nicht das Gefühl, als sei ein Loch in ihm. Stattdessen fühlt er sich leichter als Luft, schwindelig durch ein Gefühl von Versprechen und Entdeckungen. Er blickt zum Himmel auf, sieht die fernen Blau-und Grau- und Weißtöne in einem unglaublichen Leuchten umherwirbeln.
Er schaut zu Madelaine, seinem Maddy-Mädchen, und in einem Sekundenbruchteil sieht er ihr ganzes Leben. Es breitet sich vor ihm aus wie die holpernden Szenen eines alten Schwarzweißfilms. Ihr Haar wird niemals grau werden, sondern es wird sich in ein strahlendes Schneeweiß verwandeln, und sie wird in diesem Hause wohnen und auf seiner Verandaschaukel Limonade trinken bis zu dem Tag, an dem sie stirbt. Sie wird ihre weiten Sweatshirts noch als alte Frau tragen und nie eine Brille benötigen, sie und Angel werden ihren Sohn Francis taufen und sie werden ihn Frank rufen.
Weil es bereits einen Francis gegeben hat.
Er weiß, dass sie ihn vermissen wird, immer vermissen wird, und das für den Rest ihres Lebens, so wie er sie vermissen wird. Aber sie wird Angel haben, einen Angel, den er eigentlich nie wirklich gekannt hat, aber an den er immer geglaubt hat, und sie wird Lina haben. Seine kostbare Lina.
Und er weiß plötzlich, was ihn auf der Verandaschaukel gehalten hat, was ihn dazu brachte zuzuschauen, wie die Tage ineinander übergingen und sich zu schattigen Nächten verwandelten. Er ist noch immer Teil dieser Familie auf dem schneebedeckten Rasen, seiner Familie, und er wird es immer sein. Er hat das alles falsch verstanden und er erkennt, dass das vielleicht die Essenz des Lebens ist, etwas falsch verstanden zu haben und dennoch weiterzumachen und weiter zu glauben, immer zu glauben.
Er spürt, wie er höher und höher steigt, bis sie nur noch drei dunkle Flecken in einer weißen, weißen Welt sind. Nach ein paar Augenblicken ist die Verandaschaukel wieder still und die Familie unten macht sich wieder daran, die Weihnachtsbaumlichter anzustecken.
Er starrt auf sie hinab, auf die drei, die er so liebte, und weiß, dass sie über diesen Augenblick in kommenden Jahren sprechen werden.
Sie werden von dem Nachmittag sprechen, an dem die Verandaschaukel von selbst zu schwingen begann und das Wintersonnenlicht heiß genug schien, um Eier zu kochen. Sie werden vereint sein im Trost ihres Glaubens, in der Verheißung des Übersinnlichen, und sie werden ihr Leben lang auf diese alte Verandaschaukel schauen und an einen Mann denken, den sie liebten.
Francis lächelt bei diesem Gedanken. Und im Flüstern des Windes hört er ihr Lachen zum letzten Mal.
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