Kristin Hannah - Wenn das Herz ruft
seine Finger zitterten und sie wusste, dass er sprechen wollte. Aber bis sie den Schlauch aus seiner Kehle entfernt hatte, hatte er gewöhnlich das Bewusstsein wieder verloren, war abwesend, hatte geplappert, gelacht und geweint.
Wie immer war sie zu ihm gegangen und hatte sich für eine Stunde zu ihm gesetzt, nachdem ihre Schicht vorbei war. Sie kam immer wieder, drängte ihn, sich mehr anzustrengen, entschlossener zu kämpfen, an eine Chirurgie zu glauben, an die sie - wie sie feststellte - selbst nicht mehr so recht glauben konnte.
Sie strich das feuchte Haar von seiner heißen Stirn. »Lina und ich haben gestern Abend zusammen einen von deinen Filmen gesehen. Es war ... interessant. Na ja, da du bewusstlos bist, kann ich ja ehrlich sein, denke ich. Tatsächlich war das schrecklich - zu viel Blut und Gewalt und Sex. Aber Lina gefiel es und du hast wirklich toll gespielt. Sie fand dich total cool - aber das hat sie natürlich nicht zu mir gesagt. Sie hat seit Tagen nicht mit mir gesprochen.«
Madelaine streichelte abwesend seine Wange und starrte aus dem kleinen Fenster des Zimmers. Der Wind trieb Regenböen gegen das Glas. Regen verwischte alles da draußen zu einem zitternden Gemisch aus Grau und Schwarz. Es war der Beginn eines gewaltigen Unwetters, das wusste sie.
Madelaine sprach weiter zu ihm, hoffte wider besseres Wissen, dass er sie trotz seines fiebrigen Schlafes irgendwie hören könnte. Vielleicht, dass ihre Stimme sogar so etwas wie eine Rettungsleine sein könnte, der er folgen könnte, um wieder zu Bewusstsein zu kommen. »Ich weiß nicht, was ich mit ihr machen soll, Angel. Den einen Augenblick ist sie ganz still und im nächsten wütend. Nichts, was ich tue, ist richtig. Sie hat Probleme. Ich ... ich brauche deine Hilfe.«
Sie merkte plötzlich, dass sie ihm die Wahrheit erzählte, nicht einfach irgendwelche Dinge, die ihr einfielen, um ihn zu beschwichtigen oder mit ihm zu kommunizieren, sondern die Wahrheit. Ihre Wahrheit.
Sie zog ihre Hand zurück und starrte sie an, sah das kaum merkliche Zittern der Finger. Oh, Gott ...
Wann hatte sie damit angefangen, wann hatte sie begonnen, wieder an ihn zu glauben?
Sie versuchte darüber nachzudenken, es zu erklären, aber irgendwann in der letzten Woche - sie wusste nicht genau wann oder wie - hatte sie begonnen, Angel als Linas Vater zu sehen. Nicht auf irgendeine biologisch-genetische Art, die rein sachlich begründet war, sondern auf eine irgendwie heimtückische Weise. Ein Dad. Jemand, der helfen konnte, da war, die Last mittragen konnte. Jemand, dessen Präsenz bedeutete, dass sie, Madelaine, nicht immer allein sein würde, sondern der die Last der Elternschaft mittrug.
Es war lächerlich, das von ihm zu erwarten. Lächerlich und erschreckend.
Sie konnte sich auf Angel DeMarco nicht verlassen - hatte sie diese Lektion beim ersten Mal nicht gelernt?
»Vielleicht liege ich im Koma«, sagte sie und lachte dabei selbstverachtend.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, hörte sie ihren Namen über die Rufanlage des Krankenhauses. Sie nahm den Hörer des Telefons neben dem Bett ab, wählte die Vermittlung und ließ sich das Gespräch in das Zimmer durchstellen.
Madelaine meldete sich beim ersten Klingeln. »Hallo?«
»Maddy?« Die Stimme wurde von einem statischen Rauschen unterbrochen, aber sie hätte sie überall erkannt.
»Francis! Wo bist du?«
»Ich fahre jetzt in Portland weg. Kann ich zu dir nach Hause kommen?«
Sie schaute in die Dunkelheit draußen, warf dann einen Blick auf die Wanduhr. »Es ist Viertel vor acht. Warum wartest du nicht...«
»Heute Abend.«
»In Ordnung, Francis. Ich werde auf sein. Wir sehen uns dann, so gegen halb zwölf?«
»Vielleicht ein bisschen früher. Okay?«
Sie lachte. »Francis, du bist noch nie früh in deinem Leben dran gewesen.«
»Du wirst schon sehen.«
Sie lachte wieder und spürte, dass ihre Ängstlichkeit verflog. Heute Abend würde sie wieder gutmachen, dass sie Francis' Gefühle verletzt hatte, und die Dinge würden für kurze Zeit - vielleicht nur für einen Abend - so sein, wie sie immer gewesen waren. Francis, ihr Francis, würde ihr in dieser schweren Zeit helfen und ihr den richtigen Weg zeigen. »Okay, Francis. Tschüs.«
Sie legte auf.
Donner grollte über den schwarzen Nachthimmel. Blitze zuckten aus den aufgedunsenen Wolken. Pechschwarze immergrüne Bäume hoben sich rechts von der Straße an einem steil aufragenden Granithang. Eine Schlucht fiel an der linken Seite jäh ab,
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