Kristin Lavranstochter 1
willen. Selige Maria, du klarer Meeresstern, du Morgenröte des ewigen Lebens, die die Sonne der Allwelt gebar - hilf uns! Kleiner Knabe, was ist heute nacht mit dir, du bist so unruhig? Fühlst du unter meinem Herzen, wie so elendiglich ich friere?
Es war am Tag der Unschuldigen Kinder vergangenes Weihnachten, als Sira Eirik die Botschaft über jene unschuldigen Kinder auslegte, die von den grausamen Kriegsknechten auf den Armen der Mütter geschlachtet wurden. Aber Gott hatte diese jungen Knaben auserkoren, vor allen anderen Blutzeugen zuerst in die Himmelshalle einzutreten. Und dies sollte ein Zeichen dafür sein, daß solchen das Reich des Himmels gehört. Und er nahm einen kleinen Knaben und stellte ihn mitten unter sie. Ehe ihr nicht werdet wie diese, könnt ihr nicht in die Hallen des Himmelreiches eingehen, liebe Brüder und Schwestern. Möge dies ein Trost sein für jeden unter euch, Mann oder Weib, der über den Tod eines Kindes trauert. Da hatte Kristin gesehen, wie sich die Blicke des Vaters und der Mutter durch die Kirche hin begegneten, und sie hatte ihren Blick gesenkt, denn sie begriff, daß dieses nicht für sie war.
Das hatte sich im vorigen Jahr zugetragen. Die erste Weihnacht seit Ulvhilds Tod. Oh - aber nicht mein Kind! Jesus, Maria! Laßt mich meinen Sohn behalten!
Der Vater hatte voriges Jahr nicht im Stefanszug mitreiten wollen; schließlich aber hatten die Männer ihn so lange bedrängt, daß er doch mitkam. Der Ritt führte gewöhnlich vom Kirchenhügel daheim bis hinunter zur Flußmündung beim Loptshof; dort trafen die Reiter mit den Männern aus dem Ottatal zusammen. Sie erinnerte sich, wie der Vater auf seinem goldfarbenen Hengst vorübersprengte; er richtete sich auf und stand in den Steigbügeln, legte sich auf den Hals des Pferdes vor, schrie und hetzte den Hengst - und hinter ihm kam der ganze Zug nachgedonnert.
Aber im vergangenen Jahr war er früh heimgekommen, und er war völlig nüchtern gewesen. Sonst pflegten die Männer an diesem Tag spät heimzukehren und gewaltig betrunken zu sein. Denn sie mußten auf jeden Hofplatz einreiten und die Becher, die man ihnen herausbrachte, leeren, auf Christus und auf Sankt Stefan, der als erster den Stern im Osten gesehen hatte, als er die Fohlen des Königs Herodes in den Jordan zur Tränke ritt. Auch die Pferde bekamen an diesem Tag Bier, damit sie wild und übermütig wurden. Am Stefanstag, da wollten sich die Bauern mit ihren Pferden bis zur Zeit des Abendgebetes tummeln - an diesem Tag konnte man die Männer nicht dazu bringen, etwas anderes zu reden oder zu denken, als was mit Pferden zusammenhing.
Sie konnte sich eines Weihnachtsfestes erinnern, als das große Trinkgelage auf Jörundhof abgehalten worden war. Da hatte der Vater einem Priester, der sich unter den Gästen befand, einen roten Junghengst, den Sohn von Guldsvein, versprochen, wenn es dem Priester gelänge, sich auf das ungesattelte Pferd hinaufzuschwingen, während es frei im Hof herumtrabte.
Das war vor langer Zeit geschehen - noch bevor das Unglück mit Ulvhild eintraf. Die Mutter stand mit der kleinen Schwester auf dem Arm vor der Haustüre, und Kristin hielt sich an ihrem Rock fest - ein wenig ängstlich.
Der Priester lief hinter dem Pferd her, packte es beim Halfter, lief, daß ihm der lange Rock um die Beine fegte, ließ dann das sich aufbäumende übermütige Tier los.
„Fola, fola - hoia fola, hoia!“ rief er singend. Er hüpfte und tanzte wie ein Geißbock herum. Der Vater und ein alter Bauer standen da und hielten einander umhalst; ihre Gesichter waren vollkommen aufgelöst vom Lachen und vom Rausch.
Entweder mußte der Priester den Roten gewonnen haben, oder Lavrans hatte ihm das Tier einfach geschenkt, denn Kristin erinnerte sich, daß der Priester auf dem Junghengst von Jörundhof wegritt. Da waren sie wohl alle miteinander wieder nüchtern; Lavrans hielt dem Priester ehrerbietig den Steigbügel, und sie alle wurden von ihm mit drei Fingern zum Abschied gesegnet. Es war offenbar ein Geistlicher von ziemlichem Ansehen gewesen.
Ach ja. Es war daheim oft lustig gewesen zu Weihnachten. Dann kamen die Weihnachtsböcke. Der Vater hob Kristin auf seinen Rücken; seine Joppe war vereist und das Haar naß. Denn um für den Gottesdienst wieder klare Köpfe zu haben, schütteten sich die Männer beim Brunnen gegenseitig Eiswasser über die Köpfe. Sie lachten, wenn die Frauen sich darüber entsetzten. Der Vater nahm Kristins kleine kalte Hände und
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