Kristin Lavranstochter 1
man das Gesetz auch auslegen wolle, aber er möchte am liebsten, daß alle dazu beitrügen, diese Sache niederzuschlagen, damit sein Vergehen und Margrets Schande soviel wie möglich verborgen gehalten würden. Am Nachmittag wurde er zu dem Schlitten hinausgetragen, den Sira Eiliv auf Repstad zu leihen bekommen hatte, und der Priester ritt selbst mit ihm ins Gaultal hinüber.
Am nächsten Tag dann, es war Aschermittwoch, mußten die Leute von Husaby zur Gemeindekirche auf Vinjar hinuntergehen. Aber zur Vesperzeit gelang es Kristin, den Ministranten dazu zu überreden, sie in die Kirche daheim einzulassen.
Sie fühlte noch die Asche auf ihrem Haupt, als sie am Grab des Stiefsohnes niederkniete und die Paternoster für seine Seele sprach.
Von dem Knaben war jetzt wohl nicht viel mehr übrig als die Knochen hier unter dem Stein. Knochen und das Haar und einige Fasern von den Kleidern, in die er gehüllt gewesen war. Sie hatte die Überreste ihrer kleinen Schwester gesehen, als man die Leiche ausgrub, um sie nach Hamar zu überführen. Staub und Asche - sie dachte an das schöne Antlitz ihres Vaters, an die Mutter mit den großen Augen in dem gefurchten Gesicht und ihre Gestalt, die sich so erstaunlich jung und zart und zierlich erhalten hatte, obgleich Ragnfrid im Gesicht so frühzeitig alt geworden war. Sie lagen unter einem Stein und zerfielen, wie Häuser zerfallen, aus denen die Menschen weggezogen sind. Bilder drehten sich vor ihr im Kreise: die verbrannten Reste der Kirche daheim, ein Hof im Silsaatal, an dem sie vorüberkamen, wenn sie nach Vaage ritten; die Häuser standen öde und sanken zusammen, die Menschen, die die Äcker dort bebauten, wagten nach Sonnenuntergang nicht mehr, dorthin zu gehen. Sie dachte an ihre lieben Toten - an deren Mienen und deren Stimmen und Lächeln und Gewohnheiten und Tun und Lassen -, sie selbst waren in jenes andere Land hinübergegangen, es war so schmerzlich, an ihre Gestalten zu denken; es war wie die Erinnerung an das eigene Heim, wenn man wußte, daß es jetzt öde stand und daß die verfaulenden Balken zusammenstürzten.
Sie saß auf der Wandbank in der leeren Kirche; der alte, kalte Geruch nach Räucherwerk hielt ihre Gedanken an Bilder des Todes und an den Verfall zeitlicher Dinge gebunden. Und sie vermochte nicht, ihre Seele so weit zu erheben, daß sie einen Schimmer jenes Landes erblickte, wo die Toten waren, wo alle Liebe und Güte und Treue schließlich hinfloß und währte. Jeden Tag, wenn sie für ihren Seelenfrieden betete, schien es ihr selbst unrichtig, daß sie für jene beten sollte, in deren Seele bereits hier auf Erden viel mehr Frieden gewohnt hatte, als sie je an einem Menschen gekannt hatte, seitdem sie ein erwachsenes Weib war. Sira Eiliv sagte wohl, das Gebet für die Toten sei stets gut - gut für einen selbst, wenn jene bereits im Frieden Gottes weilten.
Ihr aber half dies nicht. Ihr war, als müsse, wenn ihr müder Leib endlich unter einem Stein verfaulte, immer noch ihre unruhige Seele irgendwo in der Nähe umherflattern, so wie ein unseliges Gespenst klagend um die zusammengesunkenen Häuser eines öden Hofes irrt. Denn in ihrem Gemüt blieb die Sünde weiterhin wohnen, wie die Wurzel des Unkrautes, die die Erde durchzieht. Es blüht und leuchtet und duftet nicht mehr, aber dennoch ist es in der Erde vorhanden, bleich und stark und lebendig. Trotz all der Zärtlichkeit, die ihr Inneres erfüllte, als sie die Verzweiflung ihres Mannes sah - sie besaß nicht den Willen, die Stimme zu betäuben, die, gekränkt und verbittert, in ihr fragte: Kannst du so zu mir reden, hast du vergessen, wie ich dir meine Treue und meine Ehre gab, hast du vergessen, wie ich deine geliebte Freundin war? Trotzdem sie begriff, daß sie selbst, solange diese Stimme in ihr nagte, so zu ihm sprechen würde, als wenn sie vergessen hätte.
Sie warf sich in Gedanken vor Sankt Olavs Schrein nieder, griff nach den zerfallenen Fingerknöcheln Bruder Edvins dort in der Kirche auf dem Vatsgebirge, umklammerte mit den Händen die Reliquiengefäße mit den kleinen Resten des Sterbekleides einer toten Frau und dem Knochensplitter eines unbekannten Märtyrers - griff schutzsuchend nach den kleinen Überresten, die durch Tod und Vernichtung hindurch ein weniges von der Seelenkraft des Dahingegangenen bewahrt hatten, gleich jener Zaubermacht, die dem in der Erde gefundenen rostzerfressenen Schwert eines alten Kämpen anhaften kann.
Am Tag darauf ritt Erlend in die Stadt. Nur von Ulv
Weitere Kostenlose Bücher