Kristin Lavranstochter 2
Kristin beobachten konnte. Er setzte sich wieder mit den anderen zu Tisch, ging mit ihnen zur Messe und nahm bereitwillig und freundlich die Hilfe und Dienstleistungen entgegen, die ihm die Mutter so gern angedeihen ließ.
Und je mehr Zeit darüber hinging, seit Kristin die Söhne vom Kloster hatte sprechen hören, desto mehr fühlte sie selbst, wie unsagbar schwer es ihr fiel, ihren ältesten Sohn dem Kloster zu weihen.
Sie konnte sich nicht verhehlen, daß Björgulv dort sicher am besten aufgehoben war. Aber sie wußte nicht, wie sie es ertragen sollte, Naakkve auf diese Weise zu verlieren. Es verhielt sich also doch wohl so, daß der Erstgeborene auf irgendeine Weise inniger mit dem Herzen der Mutter verbunden war als die übrigen Söhne.
Auch konnte sie nicht erkennen, daß Naakkve besonders geeignet gewesen wäre, Mönch zu werden. Zwar hatte er eine hervorragende Gabe für geistige Gelehrsamkeit und besaß große Liebe für die Andachtsübungen. Trotzdem schien er der Mutter nicht sehr geistlich gesinnt zu sein. Die Kirche hier im Tal besuchte er durchaus nicht besonders eifrig, versäumte den Gottesdienst häufig unter irgendeinem Vorwand, und sie wußte, daß weder er noch Björgulv ihrem Kirchspielpfarrer je etwas anderes als das allgemeine Sündenbekenntnis beichteten. Der neue Priester, Sira Dag Rolvssohn, war der Sohn von Rolv auf Blakarsarv, der mit einem Geschwisterkind der Ragnfrid Ivarstochter verheiratet gewesen wär. Er kam deshalb sehr häufig zu dem Hof seiner Verwandten. Sira Dag Rolvssohn war ein junger Mann, etwa dreißig Jahre alt, wohlunterrichtet und gelehrt. Aber die beiden ältesten Söhne verhielten sich ihm gegenüber kühl. Mit Gaute hingegen wurde er bald gut Freund.
Gaute war der einzige unter den Erlendssöhnen, der sich in Sil Freunde gewonnen hatte. Aber keiner von den Brüdern war durch alle Zeit hindurch so fremd im Tal geblieben wie Nikulaus. Er mischte sich nie unter die anderen jungen Leute, selbst wenn er dorthin ging, wo sie einander zum Tanz oder frohen Zusammensein trafen, stand er meist am Rande der Spielwiese und sah zu - mit einer Miene, als hielte er sich für zu gut, um mitzutun. Überkam ihn jedoch die Lust, so beteiligte er sich ungebeten am Spiel - und dann sagten die Leute, er tue dies, um sich auszuzeichnen: er war gewandt, stark und behend, ließ sich schnell zum Kampf hinreißen, und wenn er dann zwei oder drei der berühmtesten Kämpfer im Tal besiegt hatte, so mußten die Leute sein Wesen ertragen. Und gelüstete es ihn, mit einer Jungfrau zu tanzen, so beachtete er weder deren Brüder noch Verwandte und Freunde, sondern tanzte mit ihr, ging mit ihr umher und saß allein mit ihr - und es kam nie vor, daß ein Mädchen nein sagte, wenn Nikulaus Erlendssohn ihm seine Gesellschaft antrug. Dadurch machte er sich bei den Leuten nicht beliebter.
Seitdem der Bruder erblindet war, ließ Naakkve ihn selten allein, kam er jedoch des Abends einmal heraus, so war er nicht anders als früher. Auch seine langen Jagdstreifereien hatte Naakkve jetzt fast aufgegeben, dennoch kaufte er sich gerade in diesem Herbst einen über die Maßen kostbaren weißen Falken vom Vogt, und dem Bogenschießen und anderen Leibesübungen oblag er noch mit demselben Eifer. Björgulv hatte gelernt, auch mit blinden Augen Schach zu spielen, und die Brüder vertrieben sich oft den ganzen Tag am Schachbrett; sie waren alle beide die eifrigsten Spieler.
Dann hörte Kristin, daß die Leute über Naakkve und ein junges Mädchen, Tordis Gunnarstochter von Skjenne, redeten. Den nächsten Sommer brachte Tordis auf der Alm zu. In dieser Zeit war Naakkve des Nachts mehrmals von daheim weg. Kristin erfuhr, daß er bei Tordis gewesen war.
Das Herz der Mutter bebte und drehte und wand sich wie ein Espenblatt an seinem Stiel. Tordis stammte aus einem alten und ehrbaren Geschlecht, sie selbst war ein gutes und unschuldiges Kind; Naakkve konnte sie unmöglich in Unehre bringen wollen. Wenn die beiden jungen Menschen sich wirklich vergaßen, so mußte er dieses Mädchen zu seinem Weib machen. Krank vor Angst und Scham, fühlte Kristin doch, daß sie sich gewiß nicht allzusehr darüber grämen würde, wenn es dahin käme. Noch vor kaum zwei Jahren hätte sie nichts davon hören wollen, daß Tordis Gunnarstochter nach ihr Hausfrau auf Jörundhof werden sollte. Der Großvater des Mädchens lebte mit vier verheirateten Söhnen auf seinem Hof, und sie selbst hatte viele Geschwister; sie würde eine arme Braut
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