Kristin Lavranstochter 2
hin?“ Gaute antwortete, er wolle zur Mühle hinauf - es bestehe Gefahr, daß der Fluß sie wegreiße.
„Und Erlend will mit dem Vater“, sagte er.
„Du bist wohl nicht recht gescheit!“ Rasch zog sie den Knaben an sich, und Gaute lachte laut.
„Ich glaube gar, du meintest, ich wollte ihn mit mir nehmen.“ „Ja“, auch die Frau lachte. „Du, du schleppst den armen Kerl überall mit dir hin; ich glaube, du machtest es am liebsten so wie der Luchs - fräßest das Junge lieber auf, ehe du es einem anderen vergönntest...“
Als Gaute vom Hof wegritt, winkte sie ihm mit der einen Hand des Kindes nach. Dann setzte sie den Knaben auf die Wiese, beugte sich einen Augenblick über ihn und redete mit ihm, ehe sie zur Neustube weiterlief und ins Oberstockwerk hinaufstieg.
Kristin blieb stehen und betrachtete den Sohnessohn - die Morgensonne schien so schön auf das kleine Kind in seinem roten Kleid. Klein Erlend trippelte im Kreis herum, starrte ins Gras hinein. Jetzt wurde er einen Haufen Sägespäne gewahr und beschäftigte sich gleich sehr eifrig damit, diese in alle Richtungen zu zerstreuen. Kristin lachte.
Er war fünf viertel Jahre alt, aber sehr fortgeschritten für sein Alter, fanden die Eltern, denn er ging und lief und konnte
auch zwei oder drei Worte sagen. Jetzt lenkte er seine Schritte unbeirrt auf das kleine Rinnsal zu, das am einen Ende des Hofplatzes vorbeilief und, wenn es im Gebirge geregnet hatte, zu einem murmelnden Bach anschwoll. Kristin lief ihm nach und hob ihn in ihre Arme auf.
„Das darfst du nicht tun - da wird die Mutter böse, wenn du dich naß machst.“
Der Knabe schürzte die Lippen, er überlegte wohl, ob er schreien sollte, weil er nicht im Bach plantschen durfte, oder ob er nachgeben sollte - sich naß machen war seine größte Sünde; Jofrid war in solchen Dingen allzu streng gegen ihn. Aber er sah so klug aus - lachend küßte Kristin das Kind, setzte es wieder hin und ging zu ihrem Haus zurück. Aber die Arbeit wollte nicht recht vom Fleck kommen - Kristin stand fast immer nur da und sah auf den Hofplatz hinaus.
Die Morgensonne leuchtete so freundlich und schien auf die drei gegenüberliegenden Häuser herab, es war, als habe Kristin sie schon seit längerer Zeit nicht mehr richtig gesehen - wie stattlich waren doch die Häuser mit ihren säulengeschmückten Altanen und dem reichen Schnitzwerk. Die vergoldeten Enden der gekreuzten Windbretter auf dem neuen Vorratshaus blitzten gegen den blauen Dunst über dem Gebirge dahinter auf. In diesem Jahr, das einen nassen Frühsommer gebracht hatte, war das Gras auf den Dächern so frisch.
Kristin seufzte ein wenig, sah sich noch einmal nach dem Kleinen um und wandte sich wieder ihren Truhen zu.
Plötzlich durchschnitt ein jammerndes Kindergeschrei die Luft - Kristin warf alles weg, was sie in den Händen hielt, und lief hinaus. Erlend stand da und schrie und betrachtete bald seinen Finger, bald eine halbtote Wespe, die im Gras lag. Als die Großmutter ihn aufhob und bedauerte, schrie er noch viel lauter, und als sie dann unter Klagen und noch größerem Mitleid nasse Erde und ein kaltes grünes Blatt auf den Stich legte, wurde sein Geschrei ganz entsetzlich.
Schmeichelnd und beruhigend trug sie ihn in ihre Stube, während er wie in Todesnot weiterbrüllte - und mitten in einem Schrei plötzlich abbrach: er kannte Gefäß und Hornlöffel, die die Großmutter vom Türrahmen herunternahm. Kristin tauchte kleine Stücken Brot in den Honig und fütterte ihn, während sie ihn weiterhin bemitleidete, ihre Wange an seinem hellen Nacken rieb, wo das Haar kurz und leicht gekräuselt war, noch von der Zeit her, da er still in seiner Wiege gelegen und die Haare an dieser Stelle auf den Kissen abgewetzt hatte. Und Erlend hatte jetzt seinen Kummer vergessen, wandte Kristin das Gesicht zu und wollte sie mit klebrigen Händen und klebrigem Mund streicheln und küssen.
Als sie so dasaß, stand auf einmal Jofrid in der Tür.
„Habt Ihr ihn hereingeholt - das wäre doch nicht notwendig gewesen, Mutter, ich war nur oben im Dachraum.“
Kristin erzählte, welches Unglück Erlend widerfahren war.
„Hörtest du ihn nicht schreien?“
Jofrid dankte der Schwiegermutter.
„Aber jetzt wollen wir Euch nicht mehr länger plagen..." Sie nahm das Kind, das nun zur Mutter wollte, und ging hinaus.
Kristin räumte den Honig weg. Dann blieb sie stehen, ohne irgendeine Arbeit vorzunehmen. Die Truhen draußen konnten warten, bis Ingrid kam.
Es war
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