Kristin Lavranstochter 2
Die alte Frau mit der gelähmten Zunge kam auf die Füße und gab durch Zeichen zu erkennen, daß man sie zum Ausgang ankleiden solle. Sie verlangte nach dem goldenen Kreuz, dem Zeichen ihrer Würde, und nach dem Stab. Dann nahm sie Kristin beim Arm - diese war die jüngste und stärkste der Frauen, alle Nonnen standen auf und folgten.
Durch die Tür des kleinen Raumes zwischen der Kapitelstube und dem Chor der Kirche traten sie in die naßkalte Nacht hinaus. Frau Ragnhild begann zu zittern, und ihre Zähne schlugen aufeinander - sie schwitzte seit der Krankheit immer noch unaufhörlich, und die Wunden der Pestbeulen waren noch nicht ganz geheilt, so daß ihr das Gehen wahrscheinlich große Schmerzen bereitete. Als die Schwestern sie jedoch baten, umzukehren, brummte sie ärgerlich und schüttelte den Kopf, packte Kristins Arm fester und schritt von Kälte geschüttelt durch den Garten voran. Als die Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, gewahrten die Frauen den hellen Schimmer des abgefallenen welken Laubes zu ihren Füßen und ein wenig Licht an dem bewölkten Himmel über den nackten Baumkronen. Kalte Tropfen fielen herunter, und der Wind rauschte leise. Schläfrig und schwer seufzte das Dröhnen des Fjords gegen den Strand hinter der Anhöhe.
Ganz unten im Garten war eine kleine Pforte - die Schwestern fuhren zusammen, als die verrostete Eisenstange, die Kristin mit Mühe zurückzog, laut aufkreischte. Dann schlichen sie weiter durch den Hain zur Gemeindekirche hinunter. Jetzt erkannten sie die geteerte Masse, die sich gegen die Dunkelheit noch dunkler abhob, und sahen gegen das Licht in den Wolken über den Höhen jenseits des Fjords den obersten Teil des Daches, den Dachreiter mit den Tierköpfen und das Kreuz auf dem First.
Ja - es waren Leute auf dem Friedhof, das fühlten sie mehr, als sie es sehen konnten. Und jetzt zeigte ein kleiner schwacher Lichtschein, wo eine Laterne auf der Erde stand. Die Dunkelheit in der Nähe bewegte sich.
Die Nonnen drückten sich zusammen, stöhnten beinahe lautlos unter geflüsterten Gebeten, gingen ein paar Schritte, hielten an und lauschten und gingen wieder weiter. Sie waren fast beim Friedhofsgatter angelangt, da vernahmen sie aus der Dunkelheit eine dünne Kinderstimme:
„Nein, nein, jetzt habt ihr mir ja mein Butterbrot beschmutzt!“
Kristin ließ den Arm der Äbtissin los, lief weiter und trat in das Tor zum Friedhof. Sie puffte einige dunkle Männergestalten beiseite, stolperte über einen Haufen aufgeworfener Erde und war dann am Rand des offenen Grabes. Dort kniete sie nieder, beugte sich hinunter und zog den kleinen Knaben heraus, der auf dem Boden des Grabes stand und noch ein wenig jammerte, weil ihm Erde auf das gute Butterbrot gefallen war, das man ihm gegeben hatte, damit er ruhig dort unten bleiben sollte.
Erschrocken standen die Männer da, bereit zur Flucht, einige trippelten auf dem gleichen Fleck umher, Kristin sah ihre Füße im Schein des Lichtes auf der Erde. Jetzt wollte gewiß einer auf sie eindringen, so glaubte sie, in diesem Augenblick leuchteten die grauweißen Nonnengewänder auf - und die Männer standen ratlos da ...
Kristin hielt den Knaben noch in ihren Armen, er jammerte um sein Butterbrot, da stellte sie ihn auf die Erde, nahm das Brot und säuberte es.
„Da, iß - jetzt ist dein Brot wieder gut...
Und geht jetzt heim, ihr Männer.. .“, ein Beben in ihrer Stimme zwang sie, eine Weile innezuhalten. „Geht heim und dankt Gott, daß ihr gerettet wurdet, noch ehe ihr eine Tat begangen habt, die nur schwerlich gesühnt werden könnte.“ Jetzt sprach sie wie eine Herrin zu ihrem Gesinde, milde, aber als könne sie sich gar nicht denken, daß man ihr nicht gehorchen würde. Unwillkürlich wandten sich ein paar Männer dem Tor zu.
Da schrie einer auf:
„Halt - begreift ihr nicht, daß es mindestens unser Leben gilt
- vielleicht alles, was wir besitzen - jetzt, nachdem diese gemästeten Mönchshuren ihre Nasen in diese Sache gesteckt haben ! Die dürfen nicht von hier wegkommen und davon weitererzählen ..
Nicht ein Mann rührte sich - aber Schwester Agnes stieß einen gellenden Schrei aus und rief mit Tränen in der Stimme: „O süßester Jesus, mein Bräutigam - ich danke dir, daß du deinen Dienerinnen vergönnst, um der Ehre deines Namens willen zu sterben!“
Frau Ragnhild puffte sie unsanft hinter sich, humpelte mühsam vorwärts und ergriff das Licht, das auf dem Erdhaufen stand - keiner rührte eine Hand, um
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