Kristin Lavranstochter 2
niemand die Erinnerung daran zu bewahren, daß früher einmal das Leben und die Reihenfolge der Arbeitstage das Sichere und Nahe, der Tod aber das Ferne gewesen war, oder als vermöchte niemand sich auszudenken, daß es je wieder so werden würde - wenn nicht alle Menschen ausstarben. „Wir müssen wohl alle sterben“, sagten die Männer, die mit ihren mutterlosen Kindern ins Kloster kamen; die einen sagten es stumpf und hart, die anderen mit Klagen und Jammern. Sie sagten es, wenn sie den Priester zu Sterbenden holten, sie sagten es, wenn sie die Leiche zur Gemeindekirche unten am Hang trugen oder zum Friedhof oben bei der Klosterkirche. Oft mußten sie selbst das Grab auswerfen - Sira Eiliv hatte jene Laiendiener, die noch hier waren, dazu angestellt, das Getreide auf den Äckern des Klosters einzubringen, und wo er in der Gemeinde herumkam, ermahnte er die Leute, die Ernte hereinzuholen und einander bei der Versorgung des Viehs behilflich zu sein, damit sie nicht der Hungersnot anheimfielen, die vielleicht drohte, wenn die Seuche einmal ausgetobt hätte.
Die Nonnen im Kloster begegneten der Prüfung zuerst mit einer Art ratloser Fassung. Sie hielten sich jetzt ständig in der Konventsstube auf, brannten in dem großen gemauerten Kamin dort Tag und Nacht ein Feuer, schliefen und aßen dort. Sira Eiliv gab den Rat, auf allen Höfen und in allen Häusern, wo Feuerstätten waren, große Feuer zu unterhalten, die Schwestern aber fürchteten eine Feuersbrunst - sie hatten die ältesten von ihnen so oft von dem Brand vor dreißig Jahren erzählen hören. Die Stunden für die Mahlzeiten und für die Arbeit wurden nicht mehr eingehalten, und die verschiedenen Ämter der Schwestern wurden durcheinandergemengt, je nachdem die fremden Kinder kamen und um Essen oder Hilfe baten. Kranke wurden hereingetragen - es waren meist wohlhabende Leute, die sich eine Grabstätte und Seelenmessen im Kloster kaufen konnten, und dann noch die ganz Armen und Einsamen, die daheim überhaupt keine Hilfe finden konnten. Jene, deren Verhältnisse sich in der Mitte hielten, lagen daheim und starben in ihren eigenen Häusern. Auf einigen Höfen kam nicht ein einziger mit dem Leben davon. Aber die Zeiten für die Gebetsübungen hatten die Nonnen bisher doch einzuhalten vermocht.
Die erste der Nonnen, die erkrankte, war Schwester Inga, eine Frau in Kristins Alter, nahe den Fünfzigern, trotzdem aber hatte sie solche Angst vor dem Tode, daß es sich entsetzlich ansah und anhörte. Die Frostschauer überfielen sie während der Messe in der Kirche, und sie kroch zitternd und zähneklappernd auf Händen und Knien umher, während sie flehentlich zu Gott und der Jungfrau Maria um ihr Leben bettelte. Gleich darauf lag sie in brennendem Fieber da, krümmte sich vor Schmerzen, und aus ihrer Haut drang das Blut wie Schweiß. Kristins Herz war von Grauen erfüllt - sie würde die gleiche entsetzliche Angst empfinden, wenn ihre Zeit inne war. Nicht nur das war es, daß der Tod gewiß war - sondern den Pesttod begleitete auch eine entsetzliche Furcht.
Dann wurde Frau Ragnhild selber krank. Kristin hatte sich ein wenig darüber gewundert, daß man dieser Frau das hohe Amt einer Äbtissin übertragen hatte; sie war eine stille, ein wenig verdrossene alte Frau, ungelehrt, scheinbar ohne große Geistesgaben - als aber der Tod seine Hand an sie legte, zeigte sie, daß sie in Wahrheit eine Braut Christi war. Bei ihr brach die Krankheit mit Beulen aus - aber sie wollte es nicht dulden, daß ihre Töchter im Geist auch nur ein einziges Mal ihren alten Leib entblößten. Aber schließlich wurde die Geschwulst unter dem einen Arm so groß wie ein Apfel, und auch unter dem Kinn bildeten sich Beulen, sie wurden groß und blutrot, zuletzt schwärzlich. Die Äbtissin litt unerträgliche Qualen und glühte vor Fieber; sooft sie aber bei Besinnung war, lag sie wie ein Vorbild heiliger Geduld da, betete seufzend zu Gott um Vergebung ihrer Sünden und bat herzlich und innig für ihr Kloster und ihre Töchter, für alle Kranken und Traurigen und für die Erlösung aller Seelen, die jetzt wohl dahinfahren mußten. Selbst Sira Eiliv weinte, als er ihr die Letzte Ölung gereicht hatte - und seine Festigkeit und sein unermüdlicher Eifer mitten in diesem Elend waren bisher unerschöpflich gewesen. Frau Ragnhild hatte ihre Seele bereits viele Male in Gottes Hand gegeben und ihn gebeten, die Nonnen in seinen Schutz zu nehmen - da begannen die Beulen an ihrem Körper aufzuspringen.
Weitere Kostenlose Bücher