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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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aussuchten, anprobierten, kauften.
    Sie war ganz benommen, als Vater endlich im Restaurant im Dachgeschoss einen Tisch ergattert hatte.
    »Und das alles können die Leute kaufen?«, fragte sie.
    »Sicher, Kindchen. Wer hier eine gute Arbeit hat, der kann kaufen, solange der Rubel reicht«, lachte Vater. »Du wirst dich dran gewöhnen, Kristina. An gute Dinge gewöhnt man sich schnell.«
    »Und was sind die schlechten Dinge hier in diesem Schlaraffenland?«, fragte Großmutter.
    »Die Wohnungen sind zu teuer. Das Auto kostet Geld. Der Fernseher. Hier, das Essen, das wir jetzt bestellen. Wenn du das alles haben willst, dann reicht der Lohn des Mannes kaum allein. Und fast alle wollen ein Auto, einen Fernseher, eine Spülmaschine haben. Deshalb arbeiten viele Frauen mit. Deshalb gibt es hier nicht so viele Kinder wie in Skoronow. Manchmal kommen mir die Menschen hier vor wie die Frau im Märchen vom Fischer und seiner Frau.«
    Vater bemerkte, dass Rosa und Kristina ihn ängstlich ansahen.
    Er lachte zuversichtlich: »Freut euch, dass ihr hier seid. Dass wir endlich wieder zusammen sind. Wir werden es schon schaffen.«
    Er bestellte ein gutes Mahl und für jeden eine Portion Eis mit Sahne zum Nachtisch.
    Als die Rechnung über fünfzig Mark betrug, flüsterte Großmutter ihm zu: »Das ist viel zu viel für dich. Ich habe ja hundertfünfzig Mark Begrüßungsgeld bekommen. Ich zahle mein Essen selber.«
    Er lachte sie aus.
    »Wirst deine hundertfünfzig Mark schon schnell genug unters Volk bringen, Mutter«, sagte er.
    Sie blieben noch eine Weile sitzen. Vater nahm eine Zigarette aus der Schachtel, schaute nachdenklich auf den Sohn und bot ihm auch eine an.
    »Vier Jahre. Aus einem Jungen ist ein junger Mann geworden.«
    »Ein Dummkopf ist er«, sagte die Großmutter. »Warum er nicht zur Schule will, das weiß der Himmel allein.«
    Janec grinste und antwortete: »Ich kann es dir genau erklären, Großmutter. Ich hatte schon am ersten Tag von der Schule die Nase voll.«
    »Dabei hast du eine gute Lehrerin gehabt.«
    »Die Kolacki mag eine gute Lehrerin für andere gewesen sein. Mich hat sie schon in der ersten Stunde gepiesackt. Wir sollten Wörter suchen mit i. Als keiner mehr eins wusste, hab ich mich gemeldet. ›Idiot‹ habe ich gesagt. Die Kinder haben laut gelacht. Schon hab ich in der ersten Reihe ganz allein gesessen. Gleich vor dem Pult. Sie brauchte gar nicht aufzustehen, um mir mit dem Lineal eins auf den Kopf zu geben. Mir klingt’s jetzt noch in den Ohren: ›Halt die Hände still, Janec!‹ – ›Dreh den Kopf nach vorn!‹ – ›Bleib ruhig sitzen, Janec!‹ Ich glaube, die ganze Schule ist dazu da, Kindern die natürlichen Bewegungen und die Stimme zu verbieten. Stilles Kind – gutes Kind.«
    »Du übertreibst, Janec. Wie immer«, sagte Mutter. »Wenn alle deshalb nicht zur Schule wollten, dann stünden die Schulhäuser leer.«
    »Die Hauptsache kommt ja noch. Vierzehn Tage später hatte die Kolacki hauchdünne Strümpfe an, weißt du, solche aus dem Westen. Hautfarben war damals in Polen noch eine Sensation; wenigstens für die Männer. Auf mich machten sie keinerlei Eindruck, obwohl unser Fräulein sich dicht vor mir auf das Pult setzte und ihre Schuhe auf meine Bank stellte.
    Sie erzählte – was, das weiß ich nicht mehr. Aber es war spannend. Wenigstens so lange, bis ich plötzlich sah, wie aus ihrem Schuh eine schmale, helle Straße herauskroch, sich über den Spann Millimeter um Millimeter höher schob, nicht gleichmäßig, sondern stockend, von Zeit zu Zeit ganz stille hielt. Dann, aufgescheucht durch das kaum sichtbare Spiel der Muskeln, über den Enkel hin aufwärts lief und den beachtlichen Hügel ihrer Wade erreichte.
    Ich hatte noch nie vorher Nylonstrümpfe aus der Nähe gesehen, geschweige denn eine Laufmasche. Von der Geschichte hörte ich längst kein Wort mehr. Ich verfolgte mit höchster Konzentration über Minuten hin, wie die helle Strumpfstraße allmählich immer höher kletterte. Schließlich verschwand sie unter dem Rocksaum. Wohin? Ich wartete eine Weile.
    Schließlich war ich, der sechsjährige Janec Bienmann, nicht mehr imstande meinen Wissensdurst länger zu zähmen, ich schob ihr den Rock hoch und wollte sehen, wo die Laufmasche geblieben war. Die Kolacki sprang mit einem Satz vom Pult, Röte schoss ihr ins Gesicht. Zunächst kassierte ich zwei Ohrfeigen, auf jedes Ohr eine. Beide zogen wir mit rotem Kopf zum Pan Direktor. Das heißt, sie zog und ich wurde gezogen.

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