Kristina, vergiß nicht
schon sechsmal angerufen.«
»Wo steckt er?«, fragte Großmutter.
»Als der letzte Zug Sie gestern nicht mitbrachte, ist er wieder ins Ruhrgebiet zurückgefahren. Er war ziemlich fertig.«
»Wieso gestern?« Großmutter war verwirrt. »Wir haben ihm doch telegrafiert, dass wir heute kommen.«
»Weiß ich nicht.« Herr Jardin nahm seinen Hut ab und zog unter dem Schweißband einen Zettel hervor.
»Das ist die Telefonnummer. Kommen Sie rüber ins Caritashaus. Ist gleich gegenüber. Rufen Sie ihn an.«
»Wieso haben wir Kristian Bienmann nicht gesehen, gestern?«, fragte Donatka.
»Das Lager ist groß«, antwortete Herr Jardin. »Da kann man schon aneinander vorbeilaufen.«
Die Donatkas gingen mit den Bienmanns ins Caritashaus. Das Büro war klein.
Trotzdem drängten sich alle hinein.
»Da steht das Telefon«, sagte Herr Jardin.
Die Mutter nahm den Hörer von der Gabel und strich den Zettel mit der Nummer glatt.
Ihre kräftigen Finger zitterten ein wenig, als sie die Scheibe drehte.
»Ja, wer ist da?«
»Ich möchte meinen Mann sprechen, Kristian Bienmann.«
»Ja, hier Rosa, Rosa Bienmann.«
»Ja, ich warte.«
Sie verdeckte die Muschel mit dem Handballen und erklärte: »Er wird geholt.«
Es dauerte eine kleine Weile. Dann schnarrte der Ton einer Stimme aus dem Hörer.
Die Mutter sagte: »Ja, Kristian.«
»Aber wieso? Ich hatte doch auf den 16. telegrafiert.«
»Gut, Kristian.«
»Ich freue mich, Kristian.«
»Ja, alle gesund.«
»Bis morgen, Kristian.«
Sie legte den Hörer auf und setzte sich auf den Bürostuhl.
»Auf dem Telegramm stand der 15.2.«, sagte sie.
»Ach«, rief Jardin, »ich hab mir schon so etwas Ähnliches gedacht. Was da manchmal durchgegeben wird!«
»Und was ist? Wann kommt er?«, fragte Großmutter.
»Morgen ist er da, in aller Frühe«, antwortete die Mutter.
»Heute ist sowieso nichts mehr zu machen«, sagte Herr Jardin.
»Nein«, bestätigte Schwester Birgit. »In der Kantine gibt es noch etwas zu essen. Dann geht es ins Bett. Morgen sehen wir weiter. Frühstück ist zwischen sechs und acht Uhr.«
Die Schwestern und Herr Jardin verabschiedeten sich.
»Und fallt mir nicht auf Vertreter rein«, sagte Herr Jardin noch im Hinausgehen.
»Was meint er?«, fragte Großmutter.
Janina erklärte: »Sie haben uns gesagt, dass hier Leute kommen, die etwas verkaufen wollen. Es ist zwar verboten, aber sie sollen es immer wieder versuchen.«
»Ja, aber wir haben doch kein Geld, womit sollen wir denn kaufen?«, fragte Janec.
»Geld bekommst du morgen. Aber für das Kaufen brauchst du nur zu unterschreiben. Kannst später zahlen.«
»Nicht schlecht«, sagte Janec.
»Doch schlecht«, antwortete Janina. »Sie sollen hier viel höhere Preise verlangen, weil wir das noch nicht kennen.«
»Wir wollen nichts kaufen«, sagte Großmutter.
Mit dem Bett wurde es so bald nichts. Die Donatkas mit ihrem Tag Vorsprung wurden ausgefragt, konnten aber nur berichten von Registrierung, Kleidergeschenk, Befragung durch den Suchdienst und Röntgenbild.
»Warum machen sie das?«, fragte Janec.
»Na, vielleicht hast du die Motten in der Lunge und weißt von nichts«, antwortete Stanek.
»Haben sie bei euch etwas gefunden?«
»Bei Janina!« Sie sahen an Staneks Lachen, dass es nicht ernst gemeint war.
»Schweig, du Affe!«, schimpfte Janina und schlug nach ihm. Er wich geschickt aus und rief: »Stellt euch vor, drei Sicherheitsnadeln waren auf Janinas Schirmbild zu sehen!«
»Wozu gibt es Nadeln, wenn man sie nicht benützen darf?«, verteidigte Janina sich mit rotem Kopf.
Kristina war sehr müde. Trotzdem schlief sie lange nicht ein. In dem Raum standen vier Doppelbetten. Sie hatten sich alle in die untere Etage gelegt. Die anderen atmeten längst tief und regelmäßig.
Vorsichtig stand Kristina auf und ging ans Fenster. Sie schaute durch die Scheiben. Schnee fiel in dichten Flocken. Vor der Kirche stand die große Plastik eines gefangenen Soldaten, ausgemergelt, Lumpen um den Leib. Der frische Schnee bedeckte Kopf und Rücken der Figur. Sie sah fast lebendig aus.
Kristina zuckte zusammen. Großmutter war leise neben sie getreten und legte ihr den Arm um die Schultern. Sie starrte in die behäbig zur Erde gleitenden großen Flocken.
»Bald dreißig Jahre, Kindchen, ist der Krieg zu Ende«, flüsterte sie, »dreißig Jahre und jetzt erst sind wir zu Haus.«
Sie breitete die Arme aus, griff die Fensterbalken und presste ihr Gesicht gegen die Scheibe, als ob sie das fassen wollte, was
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