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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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mich. Ich bin sicher, wenn ich jemals das Fragen vergessen sollte, Gronski wird mich daran erinnern.

Großmutter und Kristina packten ihre Sachen aus. Die Donatkas kamen inzwischen an, aber sie wohnten in einem anderen Haus. Viele Menschen lebten im Durchgangswohnheim. Stanek schaute kurz einmal herein und erkundigte sich, wie es gehe. Als er davon hörte, dass Janec sich erfolgreich gegen den weiteren Schulbesuch gewehrt hatte, strahlte er.
    »So mach ich’s auch«, sagte er. »Eine Arbeit werd ich annehmen, ganz gleich, welche. Hauptsache, ich verdiene eine Menge Geld.«
    Großmutter schüttelte den Kopf. »Solltest zuerst das Polnische vergessen und Deutsch lernen«, riet sie. »Ohne Deutsch wirst du nie eine gute Arbeit bekommen. Melde dich beim Deutschkurs an.«
    »Ich werd’s schon lernen mit der Zeit«, tröstete sich Stanek und verabschiedete sich mit:
    »Gutte Naacht.«
    »Wird schwer für ihn. Weronika spricht kaum ein Wort Deutsch. Also werden sie unter sich weiter polnisch sprechen. Er wird weiter in der polnischen Sprache denken. Deutsch wird für ihn lange eine fremde Sprache bleiben.«
    »Denkst du immer in deutschen Wörtern?«, fragte Kristina.
    »Ich hab mich all die Jahre dazu gezwungen, Kristina. Und wie steht’s mit dir?«
    »Ich weiß gar nicht, wie es bei mir ist. In der Schule, unter den Freunden, weißt du, da habe ich nicht nur das Deutsche ins Polnische übersetzt. Aber bei dir, da traute man sich ja nicht einmal polnisch zu denken, viel weniger zu sprechen.«
    »Das wird dir helfen, Kind. Du hast es sicher schon bemerkt, sie sprechen hier das Deutsch anders. Sie werden uns an unserer Aussprache nach dem ersten Satz erkannt haben. Du musst dich beobachten, musst hören, wie deine Sprache klingt. Wenn du allein bist, kannst du den fremden Klang üben, wieder und wieder, so lange, bis er dein eigener wird. Musst vergessen, was war.«
    »All meine Freunde, Großmutter, unser Haus, die Spiele?«
    »Wenn du dein Herz nicht aus Polen reißt, wirst du hier immer eine Fremde bleiben.«
    »Das ist unmöglich, Großmutter«, sagte Kristina leise. »Wenn ich mich schämen soll, weil meine Freunde Polen sind, dann werde ich nie eine richtige Deutsche.«
    »Du wirst es schon lernen, Kind.«
    »Wenn ich Basia vergessen soll, wenn ich Andrzej nicht mehr erwähnen darf, dann pfeif ich drauf.«
    Großmutter schaute sie an und schüttelte den Kopf. Ich hab immer weniger Einfluss auf sie, dachte sie.
    Sie hatten ihre Sachen untergebracht, die Betten bezogen, die Kerze, die wohl noch von Weihnachten auf dem Tisch stand, angezündet.
    »Bist du müde, Kind?«
    »Ja, es ist so laut hier.«
    »Zu viele Menschen auf engem Raum.«
    Radiomusik schallte über die Etage, Gesprächsfetzen, Gelächter.
    »Spiel mir ein bisschen auf der Flöte«, bat Großmutter.
    Kristina packte das Instrument aus, lehnte sich mit dem Rücken gegen das Fensterkreuz und blies. Das Radio wurde abgedreht. Es klopfte. Die Tür öffnete sich. Eine schmale, blasse Frau blieb im Türrahmen stehen.
    »Ich bin Frau Stepka von nebenan.« Sie zeigte auf das andere Zimmer der Etage. Großmutter wollte aufstehen und die Nachbarin begrüßen, aber die wehrte ab. »Flöten Sie, Fräulein, flöten Sie. Es ist schön.«
    Kristina, die ihr Spiel kurz unterbrochen hatte, nahm die Flöte wieder an die Lippen. Doch sie hatte noch keine zehn Töne herausgebracht, da wurde die Tür zum dritten Zimmer aufgerissen. Ein grobschlächtiger Mensch, barfuß, die Hosenträger über dem offenen Unterhemd, stellte sich breitbeinig in den Korridor und schrie: »Pirunje! Das fehlt noch. Gedudel auf unserem Flur. Erst das verdammte Radio, jetzt die Pfeiferei, die einem durch Mark und Bein geht.«
    Er stapfte heran. Obwohl Kristinas Flöte längst verstummt war, verlangte er: »Aufhören damit! Ich will schlafen. Ich muss morgen in aller Herrgottsfrühe heraus.«
    »Ach, hab dich nicht so, Fettsack«, fauchte ihn Frau Stepka an. »Hast von Musik keine Ahnung, du Holzklotz. Wenn du Menschenohren an deinem Schädel hättest, dann würdest du noch dafür zahlen, wenn die Kleine spielt. Mozart war das, hörst du?«
    Der Angriff von Frau Stepka nahm ihm den Dampf. Wesentlich ruhiger erwiderte er: »Mozart. Was geht mich Mozart an, du Zange. Ich will Ruhe, verstehst du, nicht Mozart.«
    »Kristina flötet nicht mehr, wenn es Sie stört«, sagte Großmutter. »Sie kann ja morgens ihre halbe Stunde üben.«
    »Morgens schläft mein Alter«, sagte die Stepka. »Wenn Sie immer

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