Kristina, vergiß nicht
Kristina. Seine langen, dunklen Haare hingen in nassen Strähnen bis auf die Nappalederjacke herab. Auch die anderen bremsten. Es mochte ein Dutzend junger Männer sein. Kristina begriff erst, dass sie die Ursache dieses Manövers war, als sie im Halbkreis vor ihr standen und der Langhaarige sie ansprach: »Hier zu Haus?«
Kristina blickte über ihn hinweg starr gegen die Fabrikkulisse, deren Schatten sich vom Nachthimmel abhob.
»Na, Schwester, nicht in Stimmung heute?«, fragte der Mopedfahrer und schob das Vorderrad auf den schmalen Bürgersteig.
»Komm, dreh mit mir eine Runde um den Block.« Er zeigte mit dem Daumen auf sein Moped. »Mit Anklammern und so. Tolles Gefühl.«
»Lass mich in Ruhe«, antwortete Kristina.
»Willst meine Einladung . . ., ich meine, du sagst zu Rocky Nein?«
»Einladung nennst du das?«, antwortete sie. »Ich würde nie mit einem fahren, den ich nicht kenne.«
»Brav, brav«, sagte er. »Aber zu Rocky sagt man nicht Nein, verstehst du. Na, wie steht’s, Schwester?«
»Nein.«
»Hört ihr das, Jungs? Sie hat Nein gesagt.«
»Na, Rocky, zeig ihr, wer hier der Chef ist!«, lachte ein dicker Junge. Er drehte sein Moped, dass ihr der Strahl des Scheinwerfers genau ins Gesicht fiel. Die anderen folgten seinem Beispiel. Sie wurde von dem harten Lichtbündel geblendet.
»Na, immer noch keine Lust, Schwester?«
Kristina presste ihren Rücken gegen das Holz der Tür, aber die Nische war nicht tief genug. Sie konnte sich nicht vor dem Licht schützen.
»Wird’s bald, Schwester? Meine Geduld ist zu Ende. Hock dich rauf auf meinen Feuerstuhl. Oder ich mach dir Dampf!«
Angst überfiel Kristina. »Wolf!«, schrie sie wild.
»Großer Bruder, was? Nee, Schwester, da fallen wir nicht drauf rein.«
»Wolf! Wolf!«
Die Lichter drehten ab. Da stand Wolf vor Rocky, den Kopf gesenkt, das Nackenfell gesträubt, die Lefzen hochgeschoben, die Zähne entblößt. Sein lang gezogenes Heulen übertönte den Lärm der Maschinen, ein heiseres, belferndes Gebell.
Rocky gab den Bürgersteig frei. »Hetz ja die Bestie nicht auf uns, Schwester, wir erwischen dich auch noch mal allein.« Seine Drohung klang weniger gefährlich.
»Komm her, Wolf«, befahl sie. Wolf bewegte sich langsam, rückwärts kriechend auf die Haustür zu.
»Verdammt wildes Biest«, rief Rocky. »Sehr unfreundlich, wo wir dich doch nur einladen wollten.«
Er drehte das Gas auf, sprang mit einem Satz auf den langen Rennsattel, brauste los und zog die Schar wie einen Kometenschweif hinter sich her. Kristina beruhigte Wolf.
Sie schloss die Tür auf und ging ins Haus. Wolf folgte.
Kristina versuchte ihre Aufregung zu unterdrücken. Aber das ist leichter gewollt als getan. Ihr Magen stach, ihr Herz schlug bis in die Schläfen, als sie vor dem riesigen Schulgebäude stand. Immer ist es die Schule, die mich so fertig macht, dachte sie.
Auf dem Schulhof sammelten sich allmählich die Mädchen und Jungen. Es war noch ziemlich dunkel. Aus dicken Wolken fiel ein leichter Schneeregen. Ein älterer Mann, offenbar der Hausmeister, schob mit einem Schneeblech den Weg frei.
Kristina fand die Tür verschlossen, durch die sie gestern ins Haus gekommen war. Sie sah einen Lehrer durch einen Eingang am anderen Ende im Gebäude verschwinden und ging ihm nach. Als sie am Hausmeister vorbeikam, brummte der: »Untersteh dich! Ist doch für Schüler verboten. Lernt ihr wohl nie, was?«
»Ich bin neu. Für heute bin ich bestellt zum Sekretariat«, antwortete Kristina. Aber ihre Worte wurden vom lauten Kratzen des Blechs auf dem Asphalt verschluckt.
»Was ist? Willst du eine Extrawurst?«
»Ich bin neu. Ich bin bestellt.«
Er schaute auf. »Kein Trick?«, fragte er. Sie schwieg.
»Na, dann komm.« Er stellte das Schneeblech gegen die Mauer.
»Dürfen wir mal, Herr Schicketanz?«, bettelten ein paar aus der untersten Klasse.
»Wenn’s euch Spaß macht«, sagte er.
Er schlurfte schweigend vor Kristina her zum Sekretariat. Die Tür war verschlossen.
»Die Hausen, der Drachen, ist noch nicht da.« Er zuckte die Schultern und wandte Kristina sein breites, gelbhäutiges Gesicht zu.
»Sie kommt kurz vor acht. Warte am besten hier.«
»Jawohl«, antwortete Kristina.
Er ging jedoch nicht fort, starrte ihr vielmehr eine Weile gerade ins Gesicht, sodass Kristina ein wenig verlegen wurde.
»Du sprichst einen Akzent wie meine Mutter«, sagte er plötzlich.
Kristina lachte. »Und ich dachte schon, ich hätte eine schwarze Nase«, sagte
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