Kristina, vergiß nicht
sie.
»Kommst du von weit?«
»Ja, von drüben.«
»Woher denn da?«
»Aus der Gegend von Bromberg.«
»Na, ich weiß nicht, wo das ist. Meine Mutter kam aus Franstadt. So in den zwanziger Jahren. Ist schon mit sechsundfünfzig gestorben.« Er blickte traurig vor sich hin. Vom Hof her tönte Streitgeschrei. Er zuckte zusammen.
»Da, hör dir das an! Wie die Verrückten!« Er schob davon. »Viel Glück in diesem Zirkus!«, rief er ihr über die Schulter zu.
Die Absätze knallten auf die Fliesen, als Frau Hausen heranstürmte.
»Morgen. Kommen Sie herein. Was gibt’s?«
»Ich bin Kristina Bienmann.«
Die Sekretärin blickte sie fragend an.
»Ich war gestern mit meiner Großmutter schon hier. Ich soll in die zehnte Klasse.«
Frau Hausen schlug sich gegen die Stirn. »Natürlich. Schützling vom alten Schmuda. Alles klar.«
Sie hängte ihren Mantel in den Garderobenschrank und ordnete flüchtig ihre Frisur. Aus dem Schreibtisch holte sie den Karteikasten und zog Kristinas Karte mit flinkem Griff heraus. »Sie kommen zu Herrn Studiendirektor Pomel.« Sie studierte den riesigen Stundenplan, ein ungeheures Wirrwarr von bunten Klötzchen in Kolonnen zusammengesteckt.
»Warten Sie draußen. Herr Pomel hat die erste Stunde in der Zehnten. Sie können dann mit ihm gehen, wenn er kommt.« Es kamen viele Lehrerinnen und Lehrer vorbei und verschwanden durch die Tür, die dem Sekretariat gegenüberlag. Die Tür hatte nur einen Knopf, keine Klinke. Die Lehrer besaßen einen Schlüssel. Kristina sah weder Doktor Schmuda noch den Direktor. Die Tür zum Sekretariat stand nicht still. Schüler kamen und gingen. Die meisten holten die Klassenlisten. Die Glocke schellte.
»Unsaubere Terz«, stellte Kristina fest. Die kleinen Schüler stürmten mit lautem Geschrei durch die Flure. Die älteren folgten träge. Noch einmal tönte das Glockenzeichen. Die Lehrer verließen in Gruppen das Lehrerzimmer, schwatzten, drückten ihre Zigaretten aus. Türen klappten. Allmählich wurde es still.
Kristina klopfte an die Tür des Sekretariats und trat ein.
»Himmel«, rief Frau Hausen und schlug sich wieder gegen die Stirn, »ich habe Sie vergessen. Aber bei diesem Betrieb, da dreht jeder durch.«
Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und sagte: »Es ist gleich hier die Treppe hinauf im zweiten Stock. Zweite oder dritte Tür links. Schauen Sie aufs Klassenschild. Pomel heißt der Klassenlehrer.«
Kristina zählte vor der Klassentür bis zwanzig. Dann klopfte sie.
Herr Pomel musste gleich hinter der Tür gestanden haben. Er riss sie auf und sagte: »Ja?«
»Ich bin eine neue Schülerin, Kristina Bienmann.«
»Hat Sie das Sekretariat geschickt?«, fragte er.
Sie nickte.
»Na, dann kommen Sie bitte.«
Sie trat ein. Vierunddreißig Augenpaare fixierten sie gelangweilt.
»Wenn Sie sich bitte der Klasse vorstellen wollen?«
Kristina würgte ihren Namen hervor.
»Noch ein paar Worte, wenn ich bitten darf«, forderte Pomel.
»Ich war bisher auf einem musischen Lyzeum in Polen. Wir sind vor ein paar Tagen nach Deutschland gekommen. Aussiedler.«
Die halb lauten Gespräche der Schüler verstummten. Ihr Interesse war geweckt.
Aus dem hinteren Drittel der Klasse tönte eine leise gepfiffene Melodie: »In einem Polenstädtchen, da wohnte einst ein Mädchen.«
Pomel sagte scharf: »Lassen Sie den Unsinn, Krause.« Er wandte sich Kristina zu: »Für eine Polin sprechen Sie ein gutes Deutsch.«
Kristina spürte das Zittern bis in die Knie.
»Ich bin, verzeihen Sie, keine Polin. Ich bin Deutsche.«
»Ach ja?« Er schaute sie an und lächelte.
»Ich dachte, Ihr starker Akzent, wissen Sie.« Er schaute rundum. »Wo setzen wir Sie denn hin?« Er schritt durch die Reihen. »Nur noch der Platz hier vorne frei. Krause, räumen Sie doch mal Ihren Stuhl. Ich meine, es bekommt Ihnen gut, wenn Sie vorn neben Bartel sitzen.«
»Aber Herr Studiendirektor«, protestierte Krause. Vergebens. Pomel ließ sich auf keine Diskussion ein.
»Bitte«, sagte er nur nachdrücklich.
»Wird man auch noch zum Aussiedler«, brummte Krause.
Kristina bekam Krauses Platz. An dem Tisch neben ihr saß ein langmähniger, dunkelblonder Junge. Seine lustigen Augen, die gebogene, große Nase gefielen Kristina auf den ersten Blick. Sie nickte ihm befangen zu. Er fixierte sie aus den Augenwinkeln.
»Wir wollen fortfahren«, sagte Herr Pomel. »Tragen Sie doch einmal zusammen, worin Sie die Ursachen für den Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges sehen.«
Die
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