Kristina, vergiß nicht
Tafel füllte sich mit Stichworten. Pomel redete selbst am meisten. Kristina, die noch vor wenigen Monaten in ihrer Schule das Thema Dreißigjähriger Krieg lang und breit durchgekaut hatte, erkannte nur wenig von dem wieder, was sie darüber gelesen und gehört hatte.
Als zum dritten Male der Prager Fenstersturz genannt wurde, zeigte Herr Pomel leichte Ungeduld: »Ja, ja. Aber wie kam es denn zu diesem Sturz?«
Kristina hatte bislang nicht ein einziges Mal ihren Finger gehoben und hätte sicher auch die ganze Stunde lang kein Wort gesagt, wenn Pomel sie nicht direkt angesprochen hätte.
»Wie steht es mit Ihnen? Sind Sie in der Geschichte auch bereits bis ins siebzehnte Jahrhundert vorgedrungen?«
Kristina nickte.
»Wissen Sie etwas zu dem Thema?«
Kristina stand auf. »Am 23. Mai 1618 warfen die böhmischen Revolutionäre, darunter Wenzel von Ruppa, Albrecht Smiricky, zwei aus der Familie Rican, Wilhelm von Lobkowicz und andere Freiheitskämpfer die Abgesandten des habsburgischen Kaisers, nämlich Wilhelm von Slawata und Martinitz, aus fünfzehn Metern Höhe aus der Prager Zwingburg, dem Hradschin, durch das Fenster in den Schlossgraben. Sie gaben damit ein Zeichen zum Aufstand der unterdrückten Bauernklasse gegen die Ausbeutung Böhmens durch den Hochadel und den Klerus.«
Zum zweiten Male hatte Kristina in dieser Stunde das ungeteilte Interesse der Klasse geweckt. Gekicher wurde mühsam unterdrückt. »Endlich eine klare Aussage!«, rief Krause begeistert. »Ausbeutung Böhmens? Hochadel? Klerus?«
Pomel trat an ihren Tisch.
»So haben Sie das gelernt?«
»Ja.«
Pomel brummelte etwas vor sich hin, trat hinters Pult und dozierte: »Sie sehen, meine Damen und Herren, Geschichte ist interpretierbar. Die Daten, die Namen, alles das stimmt. Nehme ich jedenfalls an. Aber was lassen diese Fakten an Interpretation zu?«
Die Glocke zeigte das Ende der Stunde an.
»Wir kommen darauf zurück«, kündigte Pomel an.
»Hoffentlich!«, rief Krause.
Es blieb keine Zeit sich lange umzuschauen. Eine kleine, in ein Sportkostüm gekleidete Lehrerin trat in die Klasse.
Kristina meldete sich.
»Ach, Sie sind die Neue. Ich habe es schon von Doktor Schmuda gehört. Die Flötistin. Ich heiße Brandstätter und gebe hier Deutsch.«
Sie begrüßte Kristina mit einem kräftigen Händedruck.
Der junge Mann neben ihr kritzelte etwas auf seinen Block und schob ihn zu Kristina hinüber.
»Vorsichtig. Brandy ist ein scharfer Besen.«
Sie schrieb »Danke« darunter und schob den Block zurück. Der blieb nicht lange bei ihrem Nebenmann. Er wanderte hin und her.
»Johannes Latour. John gerufen.«
»Kristina«, schrieb sie darunter.
»Ich sammle Oldie-singles.«
»?«
»Schallplatten. Alte.«
»Kann ich nicht mit dienen.«
»Blöd.«
»Selber blöd.«
»Latour, was meinen Sie dazu?« John ließ den Block geschickt unter dem Tisch verschwinden. Er stotterte: »Da ist schwer eine Entscheidung zu treffen.« Er machte eine kleine Kunstpause. Als Brandy ihn unverwandt ansah, fügte er hinzu: »Wenn man alle Fakten gründlich bedenkt, dann sind sie verschieden interpretierbar.«
Gekicher.
»Dagegen lässt sich im Allgemeinen wenig sagen.« Spott spielte in Brandys Stimme. »Aber der Fall hier scheint doch auch bei Berücksichtigung aller Fakten glasklar. Ich habe Sie gefragt, wie oft Sie Ihren Block noch zu Kristina schieben werden.«
Das Gelächter brach los. Kristina war erleichtert, dass Brandy und John auch lachten, und sie stimmte mit ein.
In der Pause kümmerte sich zunächst niemand um sie. Es hatte aufgehört zu nieseln. Sie aß ihr Brot.
Da sprach sie ein mittelgroßer, schwarzhaariger Junge an: »Ich heiße Florin. Hans-Jörg Florin. Ich hörte eben in der Klasse, dass du Flöte spielst.«
»Ja.«
»Ich auch. Der dicke Schmuda wird sich freuen. Wir brauchen unbedingt im Schulorchester die zweite Flöte. Dafür reicht’s doch hoffentlich?«
»Ich denke schon«, antwortete Kristina verwirrt.
»Ich habe Unterricht beim ersten Flötisten unseres Städtischen Orchesters. Jede Woche. Wenn du willst, kann ich ja gelegentlich mit dir üben.«
»Wir werden sehen«, sagte Kristina ausweichend. »Bis dann.«
Er zog sich den feinen Ziegenlederhandschuh aus und gab ihr die Hand.
In der letzten Schulstunde kam kurz vor Schluss der Hausmeister in die Klasse und sagte: »Entschuldigung, Herr Oberstudienrat, die Neue möchte gleich zu Doktor Schmuda vors Lehrerzimmer kommen.«
»Immer diese Unterbrechungen«, knurrte
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