Kristina, vergiß nicht
hat sie gesagt, ›er hat bis zu seinem elften Lebensjahr nur polnisch gesprochen.‹
›Tja, liebe Frau, das mag ja alles sein. Aber ich kann mich bei über dreißig Schülern in der sechsten Klasse nicht um jedes einzelne Kind kümmern. Rechnen Sie sich mal aus, bei unseren Fünfundvierzig-Minuten-Stunden ist das gerade eine gute Minute für jedes Kind.‹
›Was soll ich denn machen, Herr Lehrer?‹
›Sagen Sie ihm, dass er sich in der deutschen Schule gut benehmen muss. Er schlägt oft die anderen Kinder ohne Grund. Die Eltern haben sich schon beschwert.‹
Sie hat darauf gar nicht mehr antworten können.
Dass die Kinder ihren Waclaw ›Waschlapp‹ und ›polnische Edelsau‹ nennen, hat sie ihm erst gar nicht mehr gesagt.«
»Und was wird draus?«, fragte Kristina.
»Es wird das Beste sein, soll der Lehrer gesagt haben, wenn er die Klasse wiederholt.«
»Also bleibt er sitzen.«
»Ja.«
»Na, vielleicht ist er nicht sehr schlau?«, sagte Kristina.
»Ach, Kristina, er hat ein Zeugnis aus Polen, das ist wirklich gut.«
»Wie wird’s mir dann ergehen«, seufzte Kristina.
Sie gingen am Abend zu den Nachbarn hinüber. Die Krobus’ kamen aus Ostpreußen, aus der Ortelsburger Gegend. »Dreißig Kilometer von Ortelsburg entfernt, da hat mein Schwager Johannes gewohnt und meine Schwägerin Agnes«, sagte Großmutter. »Die sind ‘44 geflohen. Übers zugefrorene Haff sind sie in den Westen gelangt. Wie durch ein Wunder sind sie mit dem Leben davongekommen.«
Der älteste Sohn von Krobus’ war sechzehn und besuchte eine Internatsschule in Köln. Er sollte in ein paar Monaten die mittlere Reife machen. Es war eine Schule, in der Polnisch als Fremdsprache anerkannt wurde. Die kleine Maria kam im Schlafanzug, sagte Guten Abend, traute sich aber wegen Wolf, der neben Großmutter auf dem Boden lag, nicht den Gästen die Hand zu geben.
»Na, sei ein gutes Kind und gib der Großmutter die Hand«, ermunterte sie Herr Krobus, doch das Mädchen drückte sich ängstlich mit dem Rücken gegen die Tür. Schließlich wurde sie von Frau Krobus wieder ins Bett gebracht.
»Sie ist hier in der Tagesstätte«, sagte Frau Krobus.
»Dann wird sie sicher bald gut Deutsch können«, meinte Großmutter.
Herr Krobus, ein breitschultriger, blonder Mann von über eins achtzig Größe, lachte und fügte hinzu: »Und wie sie Deutsch lernt. In der Tagesstätte sind auch die Kinder aus den nächsten Blocks da drüben. Ausdrücke bringt unsere Maria aus dem Kindergarten mit, da wird meine Frau oft rot, wenn sie die hört. Saufkopp und Drecksau sind noch die mildesten.«
»Und warum halten Sie das Kind nicht aus dem Kindergarten weg?«
»Wir sind froh, dass der Pfarrer sie dort untergebracht hat«, antwortete Frau Krobus. »Ich arbeite nämlich im selben Büro wie mein Mann.«
»Sie ist vor vier Wochen Sekretärin des Abteilungsleiters geworden«, sagte er stolz. »Hat fast so viel reines Geld wie ich.«
»Du übertreibst.« Man merkte, wie sie sich freute.
»Bald, in drei, vier Monaten, bekommen wir eine richtige Wohnung.«
»Warum gehen Sie nicht schon eher hier weg?« Bei dem »hier« hörte man Großmutter an, was sie von dem Übergangswohnheim hielt.
Die Gründe hatten die Krobus’ bald aufgezählt. Die billige Miete ihres Zimmers. Mieten sind in Neubauten teuer. Sie wollten sich die neue Wohnung gleich mit allem Drum und Dran einrichten. Sie warteten auf eine Werkswohnung. Ferner war die kleine Maria in der Tagesstätte während der Arbeitszeit untergebracht. Plätze in solchen Kindergärten sind rar.
Kristina hatte den ganzen Abend kaum ein Wort gesprochen. Oft wanderten ihre Gedanken schon in den nächsten Tag, in den ersten Tag auf der neuen Schule.
»Du musst noch mit dem Hund auf die Straße«, sagte Großmutter.
»Immer ich«, maulte Kristina. Es nieselte. Sie ließ Wolf frei und blieb in der Türnische stehen. Die Haustür fiel hinter ihr ins Schloss. Das fahle Licht der Straßenlaternen reichte nicht einmal bis zu den Dachrinnen der Häuser. Die Fabrik war heller beleuchtet und lag wie eine Lichtinsel in der Nacht.
Ein Schwarm Mopeds knatterte mit lautem Lärm die Lützmannstraße herauf. Kristina erkannte unter den roten Sturzhelmen junge Gesichter. Der Fahrer, der das Rudel anführte, bremste scharf. Das Hinterrad rutschte auf dem regennassen Asphalt seitwärts weg. Aber das schien für ihn kein Problem zu sein. Geschickt sprang er ab und schob das Fahrzeug bis an die Kante des Bürgersteigs, genau vor
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