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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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hat eine Chance.« Er nickte Kristina zu und redete im Hinausgehen halb zu sich selber: »Wird der feine Herr Florin sich wundern. Wundern wird der sich.«
    »Gut«, sagte der Direktor. »Wir werden Kristina in die Klasse zehn geben. In einem halben Jahr wird es dann ohnehin für sie leichter. Wir haben eine differenzierte Oberstufe. Da kann sie dann einige Fächer abwählen, wenn sie die Versetzung schafft.«
    »Und wann soll Kristina kommen?«
    »Gleich morgen. Frau Hausen im Sekretariat gibt Ihnen die Bücher für die zehnte Klasse mit.«
    Er öffnete die Tür zum Sekretariat und gab der Sekretärin seine Anweisungen.
    Die Karteikarte wurde ausgefüllt.
    Eine Gruppe langhaariger Schüler kam herein.
    »Was gibt’s?«, fragte Frau Hausen barsch.
    »Wir kommen wegen des Rauchens«, sagte ein langer Schlaks, der sein Gesicht beinahe völlig unter einer schwarzen Lockenpracht verborgen hatte.
    »Sie sollen zum Herrn Direktor kommen«, antwortete Frau Hausen.
    Wie bei uns, dachte Kristina. Fürs Rauchen zum Pan Direktor.
    »Was meinen Sie«, fragte der Jüngling, »geht unser Antrag auf ein Raucherzimmer durch?«
    »Wenn’s nach mir ginge, nicht«, antwortete Frau Hausen spitz. »Aber was geht hier schon nach mir?«
    Doch nicht wie bei uns, stellte Kristina fest. Alles anders. Mit den Haaren, mit den ausgefransten Hosen wären die Burschen nicht einmal bis in die Nähe einer polnischen Schule gekommen. Die Miliz hätte sie längst gegriffen und zum Scheren keinen Friseur gebraucht.
    Sie schaute die vier Burschen genauer an. Burschen? Plötzlich entdeckte sie, dass zumindest das blondhaarige Wesen ein Mädchen war.
    »Cholera«, flüsterte sie leise. Aber Großmutters scharfe Ohren hatten den Fluch aufgefangen.
    »Aber Kristina! Sprich bitte deutsch«, sagte sie und zugleich merkte sie, was sie verlangt hatte. Beide konnten das Lachen nicht verbeißen.
    Sie mussten weit mit der Straßenbahn fahren. Großmutter sprach an der Haltestelle ein älteres Ehepaar an, das auch auf eine Bahn wartete, und fragte nach der richtigen Linie.
    Freundlich gab der Mann Auskunft: »Du fahren mit Linie vier.«
    Er zeigte vier Finger seiner Hand. »Nummer vier, klar? Aber gut aufpassen! Diese Richtung!« Er deutete zum Bahnhof hin. »Und nicht in Anhänger steigen. Nix Anhänger! Klar? Da nur für Leute mit Dauerkarte.«
    »Danke«, sagte Großmutter.
    »Sind das Ausländer?«, fragte Kristina leise. Aber da hörten sie, wie der Mann zu seiner Frau sagte: »Erst sind die Türken und die Itaker alleine gekommen. Jetzt bringen sie schon ihre Familie mit. Weiß der Kuckuck, was das noch werden soll.«
    »Schscht, sprich leise, Wilhelm.«
    »Ach, die verstehen doch kaum Deutsch«, sagte er, nickte Großmutter und Kristina zu und lächelte.
    Von der Endstation aus war es noch ein Fußweg von zehn Minuten. Das Übergangswohnheim, in dem sie seit gestern wohnten, lag dort, wo die Wohnhäuser an das Gebiet der großen Eisenhütte stießen. Lützmannstraße, das war das Ende der städtischen Welt. Das war jener Straßenzug, mit dem die Eltern den Kindern drohten: Wenn du so weitermachst, landest du in der Lützmannstraße.

Der Raum im Übergangswohnheim Lützmannstraße zehn war zwei Meter siebzig breit und drei Meter fünfzig lang, hatte an der Stirnseite ein Fenster mit einem Leichtmetallrahmen, eine ehemals weiße Tür mit Stahlzarge. Die Einrichtung bestand aus einem Etagenbett, an der anderen Schmalseite standen ein Regal, ein kleiner brauner Tisch mit gedrechselten Beinen, zwei grüne Stühle und zwei rohhölzerne Hocker, solche, auf denen in der Kaserne die Soldaten in aller Welt ihre Kleider nach den Dienstvorschriften zusammenlegten.
    Überhaupt gab es in mancherlei Hinsicht Gemeinsamkeiten mit Kasernen: Die vier Etagen des Hauses, die schmucklose Architektur, die endlose Reihe gleich großer Fensterlöcher, die kahlen Treppenhäuser, in denen es ständig nach abgestandenem Essen stinkt, die Steinflure, die billige Ausführung der sanitären Anlagen und vor allem die große Zahl von Menschen, die hier auf kleinem Raum miteinander leben müssen.
    Nie wäre jedoch ein Besucher auf den Gedanken gekommen, es handle sich tatsächlich um eine Kaserne. Denn die Bewohner waren in der Regel Familien, je zu viert in ein vier mal vier Meter großes Zimmer gepresst. Auf drei Zimmer kam eine Küche, die sich die verschiedenen Familien teilen mussten. Es gab auch kleinere Räume. Zum Beispiel die schon erwähnten von zwei Meter siebzig mal drei Meter

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