Kristina, vergiß nicht
der Mathematiklehrer.
Doktor Schmuda lief vor dem Lehrerzimmer auf und ab.
»Ach, da sind Sie ja.«
»Guten Tag«, grüßte Kristina.
»Na, welchen Eindruck haben Sie von unserer Schule?«
»Der erste Tag, der schwerste Tag, sagte man bei uns«, antwortete Kristina.
»Gut. Sehr gut. Aber ich habe«, er öffnete die Tür zum Sekretariat, »ich habe für Sie eine gute Nachricht. Wenn Sie wollen, können Sie statt Englisch an dem Leistungskurs für Russisch teilnehmen. Findet zweimal in der Woche von fünfzehn bis sechzehn Uhr dreißig statt.«
»Und das gilt dann für Englisch?«
»Ja. Sie werden allerdings den Kurs der Oberstufe besuchen müssen. Seit über einem Jahr gibt es dort Russisch.«
»Das macht gar nichts. Ich lerne schon vier Jahre diese Sprache.«
»Gut.
Den Stundenplan gibt Ihnen sicher unser bestes Stück hier, nicht wahr, Hauserchen?«
»Was täte ich nicht für Sie, Doktor«, seufzte die Sekretärin.
John
Wenn mir jemand vor drei Wochen gesagt hätte, ich würde mir meine Matte mähen lassen, ich hätte ihm vermutlich einen Besuch beim Psychiater empfohlen. Meine Mähne, wie mein Vater sich manchmal in mittlerer Erbitterung, manchmal mit verletzender Ironie auszudrücken pflegt, ist der Schere eines parfümierten Friseurs zum Opfer gefallen. Ich sah mich im Spiegel, ein wenig unsicher, ein wenig wehleidig. Hinter mir stand der Friseur, blanke Lust in den Augen.
Drei Jahre, das bedeutete ungefähr 36 000 Anspielungen:
Meine Haare würden jedem Pavian zur Ehre gereichen (Vater) –
In wenigstens einer Hinsicht sei ich Beethoven überlegen (Mutter) –
Ob ich nicht einspringen wolle, sie könne den Mopp nicht finden (Meine Schwester Claudia) –
Sie wünsche sich einen Hund, so einen wuscheligen, bei dem man, wie bei mir, hinten und vorn nicht gleich erkennen könne (Unsere Kleinste) –
Vielleicht gelinge meine Übersetzung leichter, wenn ich mir die Augen frei schaufele (Der Lateinlehrer) –
»Wie heißt denn Ihre Enkelin?« (Die Frau, die im Krankenhaus neben Oma lag) –
»Was soll nur aus Deutschland werden?« Scharfer Blick auf meinen Perser. »Bei solch einer verlotterten Jugend!« (Älterer aufrecht sitzender Herr bei einer Wahlversammlung) –
»Nein danke!« Starres Fixieren meines Haupthaars. »Sie haben so schwer zu tragen.« (Dame mit Kneifer, der ich im überfüllten Bus meinen Platz anbot).
36 000-mal. Grob, ironisch, hilflos, wütend, hochmütig, herablassend, dumm, scharfzüngig, liebevoll zuredend, borniert, verständnislos, albern.
Das schafft Schwarte.
Zugegeben, ab und zu ist es immer wieder gelungen mein schwieliges Fell zu durchbohren. Vor allem meiner Mutter. Wenn sie nichts sagte. Wenn ich ihren Blick auf meinem Haar spürte. Aber was war nur innen. Nach außen hin zeigte ich einen Panzer wie der hörnerne Siegfried. In Drachenblut gebadet. Und kein Lindenblatt hat mir zwischen den Schultern eine empfindliche Stelle gelassen.
Glaubte ich jedenfalls bis vor drei Wochen.
Vater hoffte auf meinen Verstand (Durchschnittsnote 2,3), Mutter auf meine Reife (In zwei Jahren sei ich sicher darüber hinweg), die Lehrer rechneten mit dem Erziehungseinfluss der Familie, die Familie vertraute der pädagogischen Kunst der Lehrer. Die Oma erwartete Lösungen vom kurz geschorenen Beispiel des jüngst verstorbenen Großvaters, dessen Lieblingsenkel ich gewesen war. Die einzige Realistin war unsere Claudia. Sie verwies auf die Bundeswehr.
Es gab jedoch nicht nur besorgte und erzürnte Umwelt. In der Klasse war meine Matte Spitze. Und gerade in der Klasse hatte ich Anerkennung nötig. Ich habe oft eine andere Meinung vertreten als Krause und Peter Basten, die den Ton in unserer Klasse angeben.
Ich war nicht dafür, bei unserem Wandertag eine Brauerei zu besichtigen, und ich habe eine Großdruckerei vorgeschlagen.
Ich habe auf Matratzenpartys gepfiffen und gesagt, was ich davon halte.
Ich habe widersprochen, als sie die Englisch-Miss fertig machen wollten.
Die Zierde meines Hauptes hat mich, so glaube ich, davor bewahrt, Außenseiter zu werden.
Ich muss das so ausführlich berichten, damit die Wirkung von fünf Worten richtig gemessen werden kann. Fünf Worte. Die ersten, die Kristina vor drei Wochen zu mir sagte:
»I-ch libbe ni-ch-t lang-geh Chaareh.«
Vier Wochen lebten sie jetzt schon in der Lützmannstraße. Die Donatkas waren kürzlich nachgekommen. Stanek hatte jede Lehrstelle abgelehnt. Er arbeitete als Bauhelfer und es machte ihm Spaß.
»Hauptsache, die
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