Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
Vom Netzwerk:
der kalten Heimat . . .«
    »Jetzt ist aber Schluss!« Doktor Schmuda wurde zornig. »Ihr Ton, Krause, ist wohl nicht ganz dieser Schule angemessen.«
    »Wissen Sie, Herr Doktor, das liegt daran, dass diese Anstalt nur zwölf Prozent der Arbeiterkinder aufgenommen hat. Da hat unser Ton keine Chance.«
    »Ich verbitte mir Ihre Reden, Krause. Sie stören den Unterricht.«
    So plötzlich wie der Streit aufgeflammt war, so plötzlich erlosch er auch wieder.
    Nach der Stunde bat Doktor Schmuda Kristina und Hans-Jörg einen Augenblick mit ihm auf den Flur zu gehen.
    »Ich möchte die Capriccio-Sonate von Stamitz spielen«, antwortete Hans-Jörg.
    »Hat Ihnen Ihr Lehrer dazu geraten?«
    »Ja. Er meint, das könnte ich schaffen.«
    »Ich kann nur zustimmen. Vielleicht nehmen Sie den zweiten Satz?«
    »Sagt er auch.«
    »Haben Sie die Noten schon?«
    »Frau Mama wird sie mir beschaffen.«
    Doktor Schmuda wandte sich an Kristina: »Und was spielen Sie?«
    »Ich weiß nicht recht«, sagte sie unentschlossen.
    »Wie wäre es mit einem Satz aus der Bach’schen a-Moll-Sonate?
    Kennen Sie die?«
    »Nein.«
    »Sie müssten das bei einigem Üben hinbekommen. Was meinen Sie?«
    »Wenn Sie mir dazu raten?«
    »Na, versuchen Sie es mal. Wenn es Schwierigkeiten gibt, wenden Sie sich an mich.«
    Er ging.
    »Kristina«, sagte Hans-Jörg. »Es tut mir Leid, dass ich eben so unbeherrscht gewesen bin.«
    Sie wunderte sich, dass ihm die Entschuldigung offenbar leicht über die Lippen kam, und schwieg. »Ich war jahrelang unangefochten der beste Flötist. Meine Frau Mama erwartet, dass ich auch diesmal wieder siege.«
    »Deine Mutter?«
    »Ja. Sie will, dass ich der Beste bin. Dafür ist ihr nichts zu viel. Sie zahlt die Stunden, sie beschafft Noten, sie fährt mich mit ihrem Wagen zum Flötenunterricht: Sie tut alles, damit ich täglich übe.«
    »Und du?«
    »Na, mir macht es auch Spaß. Ich werde mich schon bemühen dich zu schlagen. Aber wenn du besser bist, kann ich nicht weinen.«
    »Ich muss mir erst mal die Noten kaufen. Hoffentlich sind die nicht so teuer.«
    »Wir haben bestimmt die a-Moll-Sonate. Meine Mutter macht in Vaters Büro oft Ablichtungen, Baupläne und so. Noten auch. Wenn du sie von mir annimmst?«
    Kristina lachte:
    »Gern«, sagte sie, »sozusagen als Buße.«
    »Die Katholikin schlägt doch immer wieder durch«, ging er auf ihren Ton ein.
    »Warum denn nicht?«, fragte sie.
    Er jedoch hatte noch genug vom eben erst begrabenen Streit. Auf die Musikstunde folgte Mathematik. In der nächsten Pause schien niemand mehr an den Vorfall zu denken. Kristina ging zu John hinüber, der sich an die Mauer gelehnt hatte und sein Gesicht den ersten warmen Sonnenstrahlen entgegenhielt. Sie sagte: »Danke für eben, John. Ich hatte Hilfe nötig.«
    »War doch selbstverständlich«, antwortete er kurz angebunden.
    »Was hab ich eigentlich falsch gemacht, John, dass sie alle gegen mich sind?«
    »Nichts hast du falsch gemacht. Was sie ärgert, ist, dass du es richtig machst. Mit dem Lernen, meine ich. Sie möchten sicher auch mal glänzen, mal was wissen. Aber ihnen fehlt der Mumm sich darum zu bemühen. Du zeigst ihnen, dass das geht. Das ist es, was sie ärgert.«
    »Aber ich will nicht glänzen, John. Ich will wissen! Ich will hinter die Fassade der Dinge schauen. Das ist es. Und außerdem kann ich es mir nicht leisten, das Klassenziel nicht zu erreichen und eine Ehrenrunde zu drehen. Es fällt der Familie sowieso schwer genug, dass ich nicht verdiene.«
    »Wo wohnt ihr eigentlich?«
    Es lag ihr schon die Adresse ihres Vaters auf der Zunge, aber dann sagte sie doch: »Im Übergangswohnheim in der Lützmannstraße.«
    »Ach dort?«
    Während des ganzen Gesprächs hatte er sein Gesicht nicht von der Sonne abgewendet. Sie standen noch eine Weile stumm nebeneinander, bis die Glocke schellte.
    »Krause ist dumm. Mach dir nichts draus.«
    »Ich sollte mir überlegen, ob ich bei ›Schule musiziert‹ überhaupt mitmachen soll.«
    Jetzt schaute er ihr voll ins Gesicht.
    »Was gibt es da zu überlegen? Wenn du kneifst, werden sie dich nie respektieren. Zeige ihnen, was du kannst, zeige ihnen die Zähne.«
    »Das geht bei der Querflöte so schlecht«, lachte sie.
    In der letzten Unterrichtsstunde an diesem Vormittag gelang es Kristina nicht Pomels Darstellung von der Entwicklung Preußens zu folgen. Immer wieder schweiften ihre Gedanken ab und kreisten um John. Er war für sie eingetreten. Warum? Sonst war er ihr gegenüber zurückhaltend und

Weitere Kostenlose Bücher