Kristina, vergiß nicht
streiten sich in einer Sprache, die sie alle verstehen. Sie kennen sich. Sie grüßen sich. Sie feiern miteinander ihre Feste.«
»Und die Miete ist billig«, warf Stanek ein.
»Das ist es längst nicht allein. Großmutter hat es vorige Woche so gesagt: Es ist viel Kälte in Deutschland. Und sie hat Recht. Ziehst du in ein Haus mit vielen Mietern, da kennt einer den anderen kaum. Jeder kümmert sich nur um sich selber. Einer, der so einen starken Akzent spricht wie wir, der ist ganz bestimmt allein. Frag meine Mutter, die kann es dir bestätigen. Sie findet im Haus keinen Anschluss.«
»Ihr dürftet nicht in die Großstadt ziehen, Kristina. Ich komme jeden Morgen mit dem Zug zur Schule. Fast dreißig Kilometer. Bei uns ist das anders.«
Kristina wurde klar, wie wenig sie über John wusste.
»Gibt es bei euch kein Gymnasium?«, fragte sie.
»Es ist nur eine kleine Stadt, Kristina. Aber da kennen sich die Menschen noch. Wir sind selber erst vor sechs Jahren dort zugezogen, weil mein Vater eine Stelle im Krankenhaus annahm. Heute sind wir dort zu Hause.«
»Vielleicht verstehst du dann, wie es in Polen war. Wie es ein bisschen noch im Übergangswohnheim ist«, sagte Kristina leise.
»Ich finde die Großstadt sehr schön«, sagte Stanek. »Meine Arbeitskollegen sind ganz prima Kerle. Sie rufen mich zwar ›Polensohn‹, aber ich mach mir nichts draus. Und wenn ich Feierabend habe und durch die Straßen an den Schaufenstern vorbeigehe . . .«
»Und wenn du dann die Autos in den Schaufenstern siehst und besonders die Porsches«, neckte ihn Kristina.
»Mit Porsche ist nichts. Geht doch nicht so schnell mit dem Verdienen hier. Aber vielleicht später mal einen VW.«
»Sparst ja schon am Friseur.« Kristina spielte darauf an, dass sich Stanek sehr zum Ärger seines Vaters noch nicht ein einziges Mal die Haare hatte schneiden lassen.
»Das ist Freiheit«, trumpfte Stanek auf. »Keiner schreibt mir vor, wie lang die Haare sein müssen. Kannst du machen, wie du willst.« Er zog seine Haarspitzen bis über die Nase und fuhr fort: »Und Schlagerstars kannst du über dein Bett hängen und darfst auf die Regierung schimpfen und darfst rauchen, wenn es dir passt, und die Kippen darfst du auf die Erde werfen.«
John lachte ihn aus und widersprach: »Lohnt es sich, wenn das schon die ganze Freiheit ist?«
»Was meinst du denn, was ist Freiheit?«, fragte Stanek verblüfft.
»Freiheit von Angst, zum Beispiel. Freiheit von Gewalt. Von Terror.«
»Ja«, antwortete Stanek. »Das sag ich ja.«
»Wenn ich an Waclaw Bronski denke, den Jungen unserer Nachbarin, weißt du, den wilden Burschen, der gestern neben dir saß und Eier gefärbt hat, dann hat der wenig von dieser Freiheit«, sagte Kristina. »Er hat Angst in der Schule, weil er den Lehrer nicht versteht. Und der meint vielleicht, es liegt an der Lautstärke, und brüllt ihn an. Er hat Angst vor seinem Vater, weil der ihn verprügelt, wenn er hört, dass es in der Schule nicht gut geht. Er rutscht von einer Angst in die andere.«
»Kann man ihm nicht helfen?«, fragte John.
»Wie denn?«
»Na, bei den Schularbeiten zum Beispiel. Man könnte ihm doch bei den Schularbeiten helfen.«
»Es gibt so viele Waclaws, John.«
»Mag schon sein. Einigen aus eurem Block könntest du doch helfen.«
»Oder du?«, wehrte Kristina sich.
»Oder ich?« Er dachte einen Augenblick nach. »Richtig«, sagte er, »oder ich.«
Die Gottesdienste am Gründonnerstag und Karfreitag feierten sie in einer kleinen Kapelle. Der Pfarrer hatte sie mit einem interessierten Kreis vorbereitet. Wie selbstverständlich war Kristina mit John in diese Gruppe gegangen. Durch einen Zufall war Janec sogar mit einbezogen worden.
Im Speisesaal ging der Pfarrer am Gründonnerstag von Tisch zu Tisch. Auch zu Bienmanns setzte er sich. Er fragte Janec: »Ich möchte Ihnen heute bei der Abendmahlsfeier die Füße waschen. Was sagen Sie dazu?«
»Prima«, antwortete Janec.
Er hielt das für einen Scherz.
Als der Pfarrer sich Janecs Namen notierte, ahnte er bereits, dass es kein Scherz war. Doch der Pfarrer war schon zum nächsten Tisch gegangen.
»Schön, dass du mit in die Kirche gehst«, sagte Großmutter.
»Verdammt«, murmelte Janec. »Der hat’s doch nicht ernst gemeint?«
»Aber sicher, Junge. Ich wundere mich ja auch. Hätte er doch besser die ältesten Männer genommen.«
Janec lief nach dem Essen sofort zum Pfarrer und sagte: »Wissen Sie, Herr Pfarrer, ich habe gedacht, Sie machen
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