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Kristina, vergiß nicht

Kristina, vergiß nicht

Titel: Kristina, vergiß nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Willi Faehrmann
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kühl.
    Hans-Jörg brachte ihr am nächsten Tag die Bach-Sonate.
    »Saubere Ablichtung«, sagte Kristina. »Man sieht kaum, dass sie nicht gedruckt ist. Danke.«
    »In einem Architekturbüro braucht man so etwas. Und Frau Mama versteht sich darauf«, antwortete Hans-Jörg.
    Sie wählte die Bourrée Anglaise aus und übte so häufig, dass Stanek eines Tages kam und fragte: »Was spielst du da immer? Die ganze Lützmannstraße kann das schon rückwärts pfeifen.«
    Selbst Großmutter mahnte: »Kind, du übertreibst.«
    Kristina ließ sich nicht beirren. Als sie ihre Tasche für die Osterwoche packte, legte sie als Erstes ihre Flöte zurecht.
    Janina hatte auch Ferien. Sie war größer, blasser geworden. Stundenlang hockte sie bei Kristina, wortkarg.
    »Geht es nicht gut in der Schule?«, hatte Kristina gefragt.
    »Es geht.«
    »Die Sprache?«
    »Du hörst’s ja!«
    »Du sprichst gut. Viel besser jedenfalls als vor ein paar Wochen noch.«
    »Ich weiß.«
    »Was ist denn los? Bist du verliebt und er merkt’s nicht?«
    »Ach, lass mich.«
    »Irgendwas muss doch sein.«
    »Ja. Es ist alles anders hier, als Vater mir erzählt hat.«
    »Aber sie haben doch alles gut geregelt für uns?«
    »Die Buchstaben, ja, die regeln alles.«
    »Sei nicht ungerecht.«
    »Ich hatte mir alles ganz anders gedacht.«
    »Wie denn?«
    »Das kann ich nicht ausdrücken. Anders eben.«
    »Du wirst dich einleben.«
    »Vielleicht vergisst man das Bild, das man sich gemacht hat.«
    »Vielleicht versucht man das Bild lebendig zu machen – ich meine, das man selbst . . .«
    »Meinst du?«

Janina
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an das Vaterland. Doch:
    Das Land misst die Väter nicht an der Liebe.
    Lohn. Konto. Gehalt.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an die Muttersprache. Doch:
    Diese Sprache spricht harte Worte.
    Polack zum Beispiel.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an das Heimatland: Doch:
    Kälte lässt Lachen und Atem erstarren.
    Geh weg! Ich kenne dich nicht.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an freie Frauen und Männer. Doch:
    Puppen an Fäden, an fein gesponnenen Fäden.
    Drei Stunden Fernsehen am Abend.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an fröhliche Kinder. Doch:
    Lästig sind Kinder dem Lustgewinn.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an offenen, klaren Blick. Doch:
    Gier nach Gold. Der goldene Star verschleiert die Augen.
    Schon früh.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an Würde des Menschen. Doch:
    Vom Kiosk schreien die Bilder der Käuflichen.
    Kloaken der Freiheit.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an die Zukunft des Freien. Doch:
    Der Falke am Fettnapf hat das Fliegen verlernt.
    Und den Schrei.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?
    Ausgesiedelt. Spät.
    Ich dachte an Gott unter Glücklichen. Doch:
    Er ist auf der Suche nach Lot.
    Sein Antlitz verhüllt.
    Warum bin ich nach Deutschland gekommen?

Ausgesiedelt. Zu spät? Vater brachte die Frauen mit seinem Auto bereits am Montag in der Karwoche zu ihrem Ferienaufenthalt. Er selbst wollte mit Janec am Mittwoch nachkommen. Das Gästehaus lag auf den Ruhrhöhen abseits der Riesenstädte. Die fünfundsechzig PS des Motors schafften die Serpentinen leicht. Vater hielt auf dem Parkplatz vor dem Ferienhaus. Ein grauer, zweistöckiger Häusertrakt schloss einen von Gebäuden begrenzten gepflasterten Innenhof zur Straße hin ab. Sie traten durch den Bogengang eines Torturms ein. Bei der Anmeldung erlebte Kristina eine Überraschung. Über Vaters Schulter sah sie John hinter dem Tisch stehen. Er schaute flüchtig auf, erkannte sie aber nicht.
    »Füllen Sie das bitte aus«, sagte er und schob ihnen eine Anmeldekarte zu.
    »Machen wir, Herr Latour«, antwortete sie.
    Er schaute sie an.
    »Kristina! Wo kommst du denn her?«
    »Das kann ich dich auch fragen.«
    »Bei mir ist das einfach erklärt«, antwortete er. »Ich helfe hier oben in den Ferien. Es kommt eine Gruppe von Aussiedlern aus . . .«
    Er lachte auf. »Natürlich! Dass ich nicht darauf gekommen bin.« Kristina stellte John vor. Wolf beschnupperte ihn und wedelte mit dem Schwanz. Dem Geruche nach kannte er den jungen Mann wohl längst.
    John half ihnen die Koffer zu tragen und zeigte ihnen die Zimmer

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