Kristina, vergiß nicht
Deutsche, sondern es gäbe zuerst die Menschen.«
»So kenn ich dich gar nicht«, wunderte sich Kristina. »Drüben warst du zuerst immer die Deutsche.«
»Wer kann aus seiner Haut, Kind? Aber manchmal packt mich die Angst hier in diesem engen Haus. Ob wir wohl eine Wohnung finden werden? Ob noch alles gut werden wird? Ob ich das noch erlebe?«
»Es wird schon, Großmutter. Hast bald dreißig Jahre gewartet, jetzt kommt es auf ein paar Wochen mehr oder weniger auch nicht an.«
»Du bist jung, Kind. Du hast noch viele Jahre. Aber was bleibt mir?« Sie schwiegen beide, eine wusste von der anderen, dass sie noch wach lag, aber sie sprachen nicht mehr miteinander.
Kristina fand sich allmählich in der Klasse zurecht. Krause hatte zweimal versucht sie als Nummer elf in seine Abschussliste eintragen zu können, hatte sie bis zur Straßenbahn begleitet, sie auch zu einer »Fete bei Krause« eingeladen, aber ihr klang sein Lied vom Polenmädchen noch in den Ohren, das er zu ihrer Begrüßung gepfiffen hatte. Sie war zwar höflich zu ihm, aber sie konnte ihn auch höflich ihr deutliches Nein spüren lassen.
»Kalt wie eine Hundeschnauze«, urteilte Krause enttäuscht. »Und ich dachte, Polinnen hätten Temperament.«
John blieb zurückhaltend, half ihr, wenn sie etwas nicht verstanden hatte, lieh ihr bereitwillig seine Hefte in Biologie und Chemie, als sie sich informieren wollte, was die Klasse durchgenommen hatte. Aber außer, dass er hilfsbereit war, hätte sie kaum etwas über ihn zu erzählen gewusst. Vielleicht ein paar Äußerlichkeiten.
Er hatte sich seine Haare schneiden lassen und sah männlicher aus. Er hatte schlanke, kräftige Hände. Er konnte sich ereifern, wenn es gelegentlich in der Klasse zu einer Diskussion kam. Ach ja, da war noch etwas, was sie sehr gewundert hatte. Als Brandy in der vorigen Woche einen Akt aus Sophokles’ Antigone vorgelesen hatte, hatte es in seinen Augen verdächtig geglitzert.
Auch die wenigen Mädchen in der Klasse begegneten ihr freundlich. Petra und Cornelia hockten stets beieinander und ihr Zweigespann genügte ihnen. Die anderen fünf hingen in einer Clique zusammen und hatten Sorgen mit Partys und Partnern. Sie wären vielleicht bereit gewesen Kristina in ihren Kreis aufzunehmen, aber Kristina drückten andere Probleme.
Kristina arbeitete hart für die Schule. Überraschend gut kam sie in Mathematik zurecht. Gleich die erste Klassenarbeit hatte sie »ausreichend« geschrieben, und das ganz ohne ihren Nothelfer Basia.
Der Streit traf sie unvorbereitet. Doktor Schmuda nahm eine Liste aus seiner Tasche und las die Schüler vor, die er aus der Klasse zehn für das Solospiel zum Wettbewerb »Jugend musiziert« melden wollte.
»Violine: Cornelia Mager, Cello: Dietmar Volkers, Flöte: Hans-Jörg Florin und Kristina Bienmann.«
Hans-Jörg schoss hoch.
»Wieso Kristina, Herr Doktor? Wieso zwei?«
»Wieso nicht?«, fragte Doktor Schmuda angriffslustig. »Ich kann nicht entscheiden, wen ich von Ihnen beiden wählen soll.«
»Sie ist erst ein paar Wochen hier. Ich sehe das nicht ein.«
»Sie werden sich daran gewöhnen müssen, Hans-Jörg, dass Sie Konkurrenz bekommen haben. So leicht wie in den Vorjahren werden Sie den ersten Platz nicht verteidigen können.«
»Überall diese impertinente Streberei«, knurrte Hans-Jörg.
»Was meinen Sie damit, Hans-Jörg?«
Krause stand auf. »Wir meinen damit, dass Kristina mit ihrer verdammten Streberei das ganze Klassenklima vermiest.«
Petra rief: »Herr Pomel sagte gestern zu mir: ›Wieso können Sie das nicht? Sie sehen doch, dass andere das schaffen, zum Beispiel Kristina Bienmann.‹«
»Haben wir zwei Aufgaben auf, macht Kristina drei«, sagte Dietmar. »Sie macht alles, um hier das liebe Kind zu mimen.«
»Aber, aber . . .«, stotterte Doktor Schmuda überrascht.
Krause pfiff leise: »Da wohnte einst ein Mädchen . . .«
Kristina war rot geworden. Sie hätte davonlaufen mögen.
Da erhob sich John Latour. Kristina sah, dass seine Hände fest die Tischkante umklammerten. Seiner Stimme jedoch hörte man keine Erregung an.
»Ich finde, einige von euch sind unfair. Sie hat es schwer und rackert sich ab, um das Klassenziel zu erreichen. Aber diesen und jenen stört es bereits, wenn andere arbeiten. Als ob Arbeit stinkt.«
Er setzte sich wieder.
»Du musst es ja wissen, ob Arbeit stinkt. Du sitzt ja hautnah neben ihr«, stichelte Petra.
»Vielleicht nach Knoblauch«, brummelte Krause. »Vielleicht weil die Polacken aus
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