Krokodil im Nacken
sprach. Darunter litt er; seine Familie wollte er auf gar keinen Fall verlieren.
Eine Geschichte, in der sich vieles widersprach. Woher wollte Coswig denn wissen, dass seine Frau ihm in den Westen gefolgt wäre, wenn er nicht mit ihr darüber gesprochen hatte? Und selbst wenn sie im Nachhinein eingewilligt hätte, ihm zu folgen, woher nahm er die Gewissheit, sie tatsächlich nachholen zu können? Handelte, wer seine Familie liebte, so leichtfertig? Ein solches Risiko, auf Dauer von Hannah, Silke und Micha getrennt zu sein, wäre er selbst nie eingegangen. Und dann die Story vom Zigarettenholen! Tausend Mal gehört diese Mär, in allen möglichen Varianten: Einer geht fort, um Zigaretten zu kaufen, und kehrt niemals mehr zurück! Durfte er Coswig eine solche Geschichte abnehmen?
Andererseits: Wenn Coswig ihm etwas vorgelogen hatte, weshalb hatte er sich keine bessere Story einfallen lassen? Er war doch nicht dumm.
Ja, und nun wollte er auf einmal gar nicht mehr weg, der Hilmar Coswig, geriet in Panik, weil die Frau, die er verlassen wollte, von Scheidung sprach, und setzte alles daran, möglichst wenig aufgebrummt zu bekommen, um bald wieder bei Frau und Kind in Potsdam zu sein. Weshalb hatte er denn überhaupt fliehen wollen? Nur so aus Quatsch?
Immer wieder versuchte Lenz, etwas über Coswigs Fluchtgründe herauszufinden; er erhielt nur unbefriedigende Antworten. Musik hatte er im Westen machen wollen, der Pianist vom Trio Nabuco . Warum denn nicht im Osten? Weil man hier zu sehr in eine Richtung gedrängt würde. In welche Richtung denn? Ein misstrauischer Blick und eine lange Rede über Musiktheorie, von der Lenz nichts verstand, beendeten das Thema.
Hielt Coswig ihn für einen Spitzel? Oder war er selbst ein Bereuer, ein Wiedergutmacher, von einem dieser Gebrüder Fischherz für ein paar Monate weniger eingekauft? War er gar ein Stasi-Mann im Fronteinsatz? Weshalb sollte es so etwas denn nicht geben? Coswig, ein Städtename, klang ja schon wie ein Deckname.
Lenz begann Coswig zu beobachten. Gab es da nicht manchmal verräterische Blicke und seltsame Zwischentöne? Rutschte ihm ab und zu eine ehrliche Bemerkung heraus? Wie lange behauptete Coswig schon zu sitzen? Sechs Monate? Das war fast doppelt so viel, wie Lenz hinter sich hatte. Aber wieso war dann der Belag in Coswigs Trinkbecher so viel heller als seiner? Bei der Einlieferung wurde nur fabrikneues Plastikgeschirr ausgegeben, also gingen sie alle mit den gleichen Voraussetzungen an den Start … Er wies mal wie nebenbei auf diesen Unterschied hin, und Coswig antwortete mit genauso harmloser Miene, dass er erst vor kurzem einen neuen Becher bekommen habe; der alte sei nicht mehr dicht gewesen. Eine einleuchtende Auskunft – aber auch Coswigs Filzlatschen sahen nicht so aus, als hätte er sie bereits seit einem halben Jahr an den Füßen …
Lenz ärgerte sein Misstrauen. Würde Coswig tatsächlich für die Stasi arbeiten, hätte er sich doch ganz sicher einen unverdächtigeren Namen und eine bessere Fluchtlegende ausgedacht. Andererseits konnte ja gerade das der Trick sein. Vielleicht sollten die Bespitzelten denken, dass einer, bei dem so auffällig alles auf Spitzeldienste hindeutete, unmöglich einer sein konnte. Wenn dem aber so war, wen bespitzelte Coswig – Breuning oder ihn? Oder war er auf sie beide angesetzt, nach dem Motto: »Erzählen Se doch mal, was Ihre beiden Mitgefangenen so reden, wenn sie der Katzenjammer überfällt.« Vielleicht glaubte man im Vernehmertrakt ja, dass sie noch lange nicht alles gestanden hatten …
Wenn Coswig ihm aber ebenfalls misstraute und deshalb nicht die ganze Wahrheit sagte, was wäre daran so ungewöhnlich? Wieso hätte Coswig ihm denn Vertrauen entgegenbringen sollen? Er kannte ihn ja nur als Zellengenossen. Vielleicht befürchtete er ja auch, dass sie abgehört wurden; in jedem Stück Mauerwerk, sogar im Kasten der Klospülung konnte eine Wanze stecken.
Aber da waren ja noch die politischen Witze, die Coswig so gern erzählte und die Lenz stutzen ließen. Einer, der befürchtete, bespitzelt zu werden, lieferte sich doch nicht derart ans Messer – es sei denn, er erzählte diese Witze im Auftrag der Stasi, um auch aus ihm, Lenz, ein paar solche Schoten herauszukitzeln … Doch wozu, verdammt noch mal, sollte die Stasi ihm auch noch staatsfeindliche Hetze anhängen? Bei all dem, was ihm vorgeworfen wurde, fiel das doch gar nicht mehr ins Gewicht. Oder zielten diese Witze allein darauf ab, Coswig sein
Weitere Kostenlose Bücher