Krokodil im Nacken
schon darauf bestand, Zivilkleidung zu tragen? Der schwabblige, nackte Oberkörper beim Waschen, der kleine rote, faltige Hintern, den er Lenz jedes Mal entgegendrehte, wenn er ihn während des Duschens bat, ihm den Rücken einzuseifen. Musste Lenz pinkeln, trat er ans Klo und betätigte die Spülung, um die Pieselgeräusche damit zu übertönen; Breuning trat zwanzigmal am Tag ans Becken und ließ es rinnen, als wäre dieses Geräusch ein einziger Ohrenschmaus. Ging es um größere Geschäfte, wartete Lenz, bis es höchste Eisenbahn war, dann erledigte er die Sache schnell und öffnete danach beide Lüftungsklappen; Breuning hockte sich schon eine halbe Stunde vorher aufs Becken, furzte und furzte und jammerte unter Tränen: »Nur Luft! Bei mir kommt immer nur Luft!« Und die Lüftungsklappen durfte Lenz dann nicht öffnen; es war bereits Dezember, und Breuning befürchtete, sich zu verkühlen. Klappte es doch einmal, stöhnte und grunzte er beim Scheißen wie eine Elefantendame in den Wehen und wischte sich danach so lange und gründlich den Hintern ab, dass dieses Geräusch Lenz ganz und gar verrückt machte.
Nachts schnarchte Breuning. Weckte Lenz ihn, hatte er für zehn Minuten Ruhe, dann wurde weiter abgeholzt. Tagsüber lebte Breuning ständig in der Furcht, etwas falsch zu machen. Legte Lenz sich, obwohl das verboten war, zum Lesen auf die Pritsche, bat er ihn, doch lieber wieder aufzustehen: »Sonst werden wir beide bestraft.«
Zweimal fügte Lenz sich, dann blieb er liegen. »Bin Untersuchungshäftling, nicht Strafgefangener. Außerdem betreffen meine Vergehen gegen die Verwahrraumordnung nicht Sie, sondern nur mich.«
Dieser Breuning war ein Zitterpudding, für den es nur zwei Arten von Menschen gab: übergeordnete und untergeordnete. Draußen hatte er seiner Meinung nach zur Kategorie 1 gezählt, hier zog er eine Schleimspur. Sogar vor dem Wachpersonal gab er sich eifrig, der ehemals so große Moritz Breuning, redete jeden nur respektvoll mit Herr und Dienstgrad an und stand bereits stramm, wenn nur durch den Spion gelinst wurde. Lenz hingegen hatte längst mitbekommen, wie weit er gehen durfte, ohne sich größeren Ärger einzufangen, lag auf seiner Pritsche und las, solange ihm danach zumute war. Klopfte einer der Schließer gegen die Tür, stand er für fünf Minuten auf; betrat der Schließer die Zelle, um ihn lauthals zusammenzuscheißen, blickte er ihn nur an, als gelte es, irgendein neuartiges, interessantes Insekt zu studieren. Die Schließer und Läufer auf dieser Etage waren nicht strenger oder freundlicher als jene, die er bisher kennen gelernt hatte; Kleinfingergroß und Bandwurm hatte er sie getauft, Blaumeise, Spartakus, Bäuerlein und Rübensau.
Hin und wieder fragte Lenz sich, ob seine Antipathie nicht ungerecht war. Was konnte Breuning dafür, dass man sie zusammengelegt hatte? Doch kam er gegen seine ablehnende Haltung nicht an. Breuning erweckte Aggressionen in ihm, die er sich nicht zugetraut hätte; Breunings ewige Angst um die eigene Gesundheit verstärkte sie noch. Jeden Abend stand er vor seinem Schränkchen und überlegte: Sollte er seinem Mithäftling Lenz einen halben Apfel, eine halbe Orange oder eine Mandarine opfern? Oder doch lieber nicht? Meistens kam er zu dem Schluss, dass es besser sei, seine Vitamine allein zu inhalieren. Und opferte er jeden dritten, vierten Abend doch etwas aus seinem Schatzkästlein, erwartete er dafür immer währende Dankbarkeit.
Lenz nahm die zögerliche Gabe dennoch an; er wollte nicht mit wackligen Zähnen und Glatze aus der Haft entlassen werden. Als Entgelt putzte er, wenn einmal die Woche die Reinigungsutensilien hereingereicht wurden, die gesamte Zelle.
Einzig wirklicher Vorteil für Lenz in dieser Zeit der ungewollten Zweisamkeit: Jeder Häftling erhielt zwei Bücher pro Woche, zwei Häftlinge erhielten vier. So musste er von nun an kein Buch zweimal lesen und sich nicht mal mit Breuning abstimmen, wer wann welches Buch las, denn Breuning las nicht, blätterte nur manchmal in einem der Bücher herum, als wunderte er sich darüber, dass so unnötiges Zeug überhaupt produziert wurde. Allerdings blieb Lenz nicht so viel Zeit zum Lesen, wie er es sich gewünscht hätte, denn war Breuning nicht zur Vernehmung, watschelte er vor seiner Nase in der Zelle auf und ab und unterbrach ihn wegen jeder Kleinigkeit, die ihm gerade einfiel. Um ihn ruhig zu stellen, schlug Lenz ihm deshalb bald vor, sich vom Arzt eine Liegeerlaubnis erteilen zu
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