Kronhardt
erschieÃen.
Bald darauf meldete sich ein Mann vom Jugendamt bei Gisela, und sie wurde unruhig. Doch Schlosser wuÃte, daà es für individuelle Notlagen einen kollektiven Topf gab und daà die Jugendfürsorge in einer Art Pflicht stand, sich zu kümmern.
Die Jungs, aber auch Blask waren bei dem Gespräch dabei, doch der Mann von der Fürsorge hielt sich erst gar nicht mit Bürokratie und Vorschriften auf. Er kondolierte, dann wollte er wissen, ob Gisela in ein Heim wolle. Wenn nicht, könne er sich auch anderweitig kümmern, es sei denn, sie hätte bereits einen behüteten Platz. Bis nächste Woche müsse er Bescheid wissen, und er legte ihr noch eine professionell begleitete Trauerarbeit ans Herz. Das wars, und Blask organisierte Kost und Logis bei der Witwe eines Kaffeehändlers. Gisela wurde in ihrer Villa untergebracht, und Blask selber übernahm die Seelenarbeit und wies sie darauf hin, daà es erst einmal darauf ankomme, wieder Struktur und Berechenbarkeit in ihr Leben zu bringen. Ganz egal, ob sie nun ins Visier des Verfassungsschutzes geraten sei oder nicht, er rate vor allem als Arzt dazu, der Erschütterung nicht mit Aktionismus zu begegnen; keine auffälligen oder verdeckten Kontakte, keine Protestmärsche, und am besten, sie ginge auch bald wieder zur Schule.
Und apropos, natürlich wollten Rektor und Kollegium unter den plötzlich veränderten Umständen nicht selbst wie Ungeheuer dastehen, nichtwahr. Natürlich würden sie Gisela die Zulassung zum Abitur erteilen, vorausgesetzt, sie hielte die zuletzt vorgelegten Leistungen.
Die Mitschüler hielten sich meist zurück. In Giselas Nähe senkten sie den Blick, und hinter ihrem Rücken tuschelten sie. Patrizia von Kattenesch jedoch paÃte Gisela ab; sie senkte ihren Kopf und übergab auch im Namen von Ferdinand Lasalle, der bereits studierte, eine Trauerkarte. Frederike und Jan-Carl nahmen Gisela in den Arm, und Achim-das-Tier sagte: Peng! Ein Fickfrosch weniger. Und mit dem Erbe kannste jetzt was für die Sache tun. Oder die Kapitalistensau rauslassen.
Zur bestandenen Reifeprüfung saÃen sie alle in der Aula. Gisela zwischen Willem und Schlosser, der Rektor redete vom Katheder, Achim-das-Tier furzte, und später standen sie in Grüppchen und tranken Sekt. Nach dem zweiten Glas verlieÃen sie die Schule. Während sie am Elefanten eine letzte Zigarette rauchten, sahen sie Lasalle in einem Kabriolett vorfahren. Kurz darauf kam er mit von Kattenesch zurück; sie löste ihr Haar, und dann griff der Fahrtwind hinein.
Willem und Schlosser hielten es für unwahrscheinlich, daà jemand von den Albany-Leuten sie beschattete. Dennoch beschlossen sie, die Augen weiterhin offenzuhalten. So gingen sie zum Bahnhof, nahmen den Zug nach Vegesack und von dort einen Bus nordwärts bis kurz vors Niedersächsische. Sie kehrten in eine Gaststätte ein. Das Essen war deftig, der Wirt wortkarg. Gisela konnte Mitleid für ihre Mutter entwickeln, doch zugleich machte sie ihr Vorwürfe und war nicht bereit, auch noch ihre eigene Zukunft für diese Tragödie zu geben. Sie wollte nach Berlin, und die Jungs konnten das verstehen. Vielleicht, sagte Schlosser, könne er dann sogar pro forma bei ihr einziehen und seinen Musterungsbescheid verbrennen. Später kauften sie vom Wirt noch zwei Flaschen Wein aus seinem Keller, dann marschierten sie am Bunker vorbei direkt auf den Deich. Linker Hand der FluÃ, zur anderen das Schwemmland, und als sie bei der verwitterten Kate anlangten, war ihnen niemand gefolgt. Sie köpften den Wein, rauchten Schlossers Knaster, und bald erschienen über der Wurt die Sterne.
20
Die Alten sahen die Weltbilder mit Abscheu. Tagediebe, Haschbrüder und Revoluzzer â die Kinder waren zum Werkzeug der roten Usurpatoren geworden, die Kinder besudelten ihr Vaterland. So saÃen sie und starrten mit HaÃ. Unglaublich, wie die Zeiten aus den Fugen gerieten. Mit was für einer Rasanz plötzlich, wo noch gestern der Kodex indiskutabel und wunderbar endgültig schien. Wo noch gestern die tiefe Verbeugung vor dem Vaterland gewissermaÃen biologisches Erbe war. Und plötzlich? Sogar in Amerika besudelten sie alles; ihre Eltern, den Präsidenten und die Vietnamkämpfer, sie banden sich Blumen ins Haar, und mit ihrer Verweichlichung trieben sie auch dort den roten Keil in gesundes Weltenfleisch. Noch vor der Atombombe oder Gott
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