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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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Flügelfenster stand eine Ulme, es gab einen Kachelofen, eine Kochnische, und die Hausmeisterin bezeichnete den Nachbarn als unauffällig und freundlich. Schlosser bat sich eine Bedenkzeit aus.
    Einige Blöcke weiter standen Mannschaftswagen der Polizei in einer Querstraße. Zwischen den Häuserzeilen klafften Brandmauern, und Fenster und Türen der unteren Stockwerke waren vernagelt. Von oben hingen Bettlaken herunter – Das ist unser Haus oder Der Kampf geht weiter, konnten die Jungs lesen –, und auch Transparente waren quer über die Straße gespannt. Die Mannschaftswagen waren verbeult und von Farbgeschossen getroffen.
    Wo Stirner den separaten Eingang über der Feuertreppe vermerkt hatte, wohnte eine Frau. Sie hatte sich scheiden lassen, hatte ihren Lehrerberuf aufgegeben und wollte im nächsten Monat auswandern. Ihr Haus und ihre Möbel hatte sie bereits verkauft, alles, was sie noch besaß, paßte in einen Rucksack. In der Schlafecke hing ein Buddhaposter. Es war eine kleine, auf zweieinhalb Zimmer geschnittene Dachwohnung, die nach Süden ausgerichtet war. Es gab einen Kanonenofen, fließend Wasser, und man konnte auf der Feuertreppe sitzen. Die Kosten waren überschaubar, Herd und Kühlschrank würde die Frau für fünfzig Mark überlassen. Schlosser überlegte nicht lange, und Willem sah den Glanz in seinen Augen.

22
    Vögel aus der Kastanie heraus und erstes Sonnenlicht weckten ihn. Dann lag er noch eine Zeitlang auf der Pritsche, sah die stacheligen Früchte und den Himmel zwischen den Blättern hindurch.
    Wenn Willem in die Küche kam, frühstückte er meist alleine. Schlosser und Gisela stritten und versöhnten sich weiterhin bis in die Nacht.
    Gelegentlich tauchte Stirner auf; in seinem Schlafanzug steckten Block und Stift, er wollte wissen, ob Willem Bakunin gelesen habe, was er von Horkheimer halte oder Marcuse, und auch wenn Willem schwieg, machte Stirner sich Notizen. Dann holte er sich ein paar Haferflocken und zog wieder ab. Zwei- oder dreimal erschien auch Abeba; er war ein Nachtmensch, und vorm Schlafengehen setzte er sich noch auf einen Kaffee in die Küche. Willem erfuhr, daß er ein waschechter Berliner war. Sein Vater war in den 20 ern als Musiker in die Stadt gekommen, ein Exot damals, der weiße Frauen und weiße Drogen verschlang. Doch er heiratete schließlich eine schwarze Tänzerin, und bis die Nazis kamen, lebten sie in Saus und Braus. Sie flüchteten rechtzeitig, landeten in Marokko, und nach dem Krieg kehrten sie zurück. Sie kauften ein Lokal und boten der ausgebombten Stadt Musik und Tanz. Anfangs kam das Geld von den Besatzern, heute war das Tanzlokal legendär, und seine Alten nannte er um nichts besser als die Salonlöwen, denen sie nun Schampus ausschenkten. Abeba selber beschäftigte sich mit Soziologie und Agitation, und er fand es wichtig, Methoden der Meinungsmache zu analysieren und dahinter die Staatsmacht zu entblößen.
    Wenn Willem nach dem Frühstück durch die Straßen zog, überkam ihn bald ein tiefer Eindruck. Die Gerüche trieben auf in der milden Luft, und noch im steigenden Sonnenlicht erkannte er den Schleier auf der Stadt. Die erstarrte Vergangenheit. Die neuen Kampfspuren. Geschichte und Gegenwart der ganzen Republik schienen in dieser Stadt zu sieden und über alles eine seltsam politische Schicht zu legen. Noch die Doppeldeckerbusse waren mit Schlagworten bemalt, und bis in die Einkaufsstraßen zog diese Schicht, markierte die bunte Welt dort und verwandelte jede private Lust in Verbrechen. So zog er vorbei an den Spuren von Schinkel und Speer, an häßlich gestopften Bombenlöchern, an besetzten Häusern und über frische Schlachtfelder.
    Zum Abend fiel roter Himmel durch das Sägedach, und in der Halle war ein Kommen und Gehen. Die meisten gaben sich wichtig; Hippie- und Beatniktypen, Hausdealer schauten vorbei, schräge Künstler, Agitprops, die harten Leute aus dem Untergrund, und jeder konnte ein V-Mann sein. Willem und Schlosser stellten fest, daß die meisten eine Masche draufhatten, und wenn sie weiterzogen, ließen sie ihre Spuren zurück. Wer etwas dagegen sagte, war ein Spießer. So hatte jeder in der Halle irgend etwas zu seiner Sache gemacht; jeder hatte ein Weltbild parat, heute so und morgen so, und oft genug hielten diese Bilder nicht mal einen Abend lang.
    Gelegentlich mischten sich die Jungs in die Halle.

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