Kronhardt
dem freien Markt dies und das angeboten wurde, welche Insekten unter diesen und jenen Umständen die ersten bei einem Leichnam waren. Manchmal zuckten seine Mundwinkel, und der Kopf fiel zur Seite. Dann warf Stirner eine Pille oder besorgte sich eine Frau, und danach machte er weiter. Saugte Informationen, brachte Antworten hervor, und anscheinend machte er nichts anderes. Er vermittelte und schien gut davon zu leben.
Nach dem Frühstück klopfte Schlosser an Stirners Tür. Die Tür ging einen Spaltbreit auf, und nur sein Kopf schaute heraus. Die Kastenbrille mit den dicken Gläsern erschien mickrig. Wo ist denn dein Kumpel? sagte er.
Schlosser nickte in eine Richtung.
Studiert der?
Frag ihn.
Ich arbeite hier nicht umsonst, Mann.
Und ich tratsch nicht hinterm Rücken meiner Freunde. Ich besorg dir ne anständige Flasche Wein.
Du bist schon in Ordnung, Mann. Und Stirner langte ein Papier durch die Tür.
Schlosser grüÃte und zog ab.
Die Sonne schien und zog Spätsommerdunst aus der Luft. Schlosser wuÃte, wo der Kreuzberg war, und sie gingen ein Stück durch einen Park und nahmen dann einen gewundenen Pfad nach oben. Ein schmaler Wasserlauf kam ihnen entgegen; wo das Gefälle steil war, rauschte es, und manchmal irisierte die Luft. Schlosser wuÃte auch, daà Berlin in einem eiszeitlichen Urstromtal lag und Schmelzwasser den Kreuzberg herausgeschnitten hatte. Der Berg war über sechzig Meter hoch, doch warum von oben ein Bach herunterfloÃ, hatte er noch nicht in Erfahrung gebracht. Dafür hatte er von Artefakten gehört, die darauf hindeuteten, daà der Kreuzberg noch über die Bronzezeit hinaus für die Menschen ein Ort der Kraft gewesen war. Doch mit Einzug des Christentums kam ihnen dieses Gespür abhanden, und der Ort wurde zur Schädelstätte, zum Kalvarienberg, und so leitete sich sein heutiger Name ab.
Zum Gipfel hin erreichten sie eine Plattform. Ein paar Typen saÃen herum, einer hatte eine Vietcongfahne dabei.
Ganz oben wehte eine würzige Brise. Aus dem Osten stieg der neue Fernsehturm gegen den Himmel; ein glänzendes Schwert. Die Stadt darunter aufgebrochen wie ein riesiges Tier; graue Eingeweide und gewucherte Organe, die aus der Höhe mühelos über die Mauer hinwegschwappten. Willem meinte, die Stadt läge da wie ein Opfer. Schlosser rollte eine Zigarette. Dann holte er das Papier hervor. Stirner hatte vierzehn Adressen von Zimmern oder Kleinwohnungen aufgeschrieben, und sie lagen fast alle um den Kreuzberg herum. Zu jeder Adresse gab es ein paar Standardinformationen; manchmal hatte er auch darüber hinaus etwas herausgefunden, Mauerblick, separater Eingang über Feuertreppe, blinder Kohlenhändler nebenan oder Nachbar dubios, eventuell V-Mann. Stirners Liste war sauber und übersichtlich, und anscheinend hatte er sich eine gute Flasche verdient.
Unten war die Luft mild, das Licht brachte weiterhin spätsommerliche Färbung gegen die seltsam monotone Unordnung in den StraÃenzügen. Berlin war häÃlich oder, wie Willem meinte, trieb einen morbiden Charme aus; eine verwesende Schönheit, und die Jungs erinnerten sich an Zirbels Worte, wie er in den 20 ern vom lockenden Rausch dieser Stadt gepackt worden war. Am Rande einer groÃen Kreuzung sahen sie berittene Polizei, die ein paar langhaarige Typen eingekesselt hatte. Die Typen gestikulierten gegen die Polizei, die Pferde waren unruhig. Autos hupten, die Linden am Fahrbahnrand hatten farblose Blätter, und zwei StraÃen weiter erreichten die Jungs die erste Adresse. Hare-Krishna-Leute zogen an dem Haus vorüber, ihre Gewänder leuchteten gegen den ruÃigen Verputz. Auch die nächsten Adressen fanden sie mühelos; meist waren es Häuser, die wie Sterne aus leuchtender Kaiserzeit nun unter den Horizont gesunken zu sein schienen. Noch Parolen oder Plakate waren düster überzogen, und in den Fluren ahnten die Jungs einen dumpfen Wahn hinter den Wänden; manchmal begegnete ihnen auf den Treppen jemand, ein Mann im Unterhemd, der einen Kohleneimer trug, eine Frau mit schlecht sitzender Perücke und Sonnenbrille, manchmal kroch Marihuanarauch durch die Türritzen, und Led Zeppelin dröhnte. Die Zimmer, die sie besichtigten, waren enttäuschend. Dunkle Löcher, eines lag sogar im Souterrain, und erst das Zimmer, zu dem Stirner einen möglichen V-Mann als Nachbarn notiert hatte, war hell und schön. Vor dem
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