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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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driftenden Kontinentalplatten und aufgefalteten Gebirgen, von Vulkanausbrüchen und Klimawechsel, und rings im Kreidegestein, meinte er, lägen all diese Wendemarken wunderbar geschichtet; eine Art Skala, an der man Vorgänge und Ereignisse ablesen und datieren könne. Und er stellte sich eine der größten Katastrophen in der Erdgeschichte vor, jenen Meteoritentreffer am Ende der Kreidezeit, die nun wie ein Bleistiftstrich komprimiert in den Seven Sisters liegen müsse. Was für ein unglaublicher Einschnitt ins Leben, meinte er, als damals beinah alle Arten ausradiert wurden. Und doch trieb die Evolution die Welt des Lebendigen unbeirrt weiter aus. Entscheidende Veränderungen hin zu Nadelwäldern und der Magnolie als Blütenpionier; hin zu Aufspaltungen und Vervielfältigungen von Vögeln und Säugern; zu Entwicklung auf getrennten Kontinenten oder in insularer Isolation.
    Das Schwingen aus seiner Brust stieß wohlig in Barbaras Kopf, sie spürte die intime Verbindung, und über ihnen der Himmel erschien ihr so tief wie noch nie. Und während Willem den Sprung vom Tertiär ins Holozän machte und mit Australopithecus und Homo habilis die Abspaltung von den Menschenaffen betrachtete, konnte sie in den fedrigen Wolkenschleiern den alten Roderick sehen. Sein Wissen, seine Beziehungen, seinen Fundus. Vom Sohn verlassen, der letzte einer eingefleischten Leidenschaftslinie, und während Willem in seinen Betrachtungen aufwärts stieg – Erectus, Cro-Magnon, Sapiens –, konnte sie neben Roderick noch einen Schriftzug am Himmel sehen, zwei Wörter, gesetzt aus einer zeitlosen Type und mit einnehmendem Schwung, zwei Wörter im dunklen Rot des Abendhimmels: Barbara Focke.
    So lag ihr Kopf auf seiner Brust, und Willem sprach über Erfolg oder Aussterben einzelner Zweige, er sprang über Eiszeiten und Neandertaler zur atlantischen Periode, und dann sagte er, Stonehenge sei womöglich das eindrucksvollste Steindenkmal Europas; womöglich das Zentrum einer Kultur, an dem sich die steinzeitliche Weltsicht entwickelt habe, und Barbara konnte sehen, wie sich die Abendröte im Kanal vertiefte.
    Wenn sie abends im Kittiwake saßen und schon einige Gläser genommen hatten, offenbarte sich für Willem erneut das Erregende seiner Frau. Tagsüber schlugen ihre Reize ganz anders in ihm an, und vor allem ihr Bedürfnis nach Geborgenheit und Nähe konnte eine Fürsorge in ihm auslösen, die nichts mit sexuellem Verlangen zu tun hatte. Manchmal füllte ihn diese selbstlose Art aus, und wenn er Barbara hielt und durchdrungen war von der wechselseitigen Wärme, schien es darüber hinaus nichts zu geben. Keine Schwellkörper, keine Salisbury Plain oder Seven Sisters.
    Doch wenn schaumlose Biere über den Tresen rauschten, wenn der Whisky aus den Gläsern schwappte und das Cockney der Sommergäste hängenblieb in der blauen Luft, schien Barbara ihre Weiblichkeit auszuschwitzen. Ihre Proportionen schienen von einem Glimmer überzogen, Willem ahnte, wie Hitze aus ihren bedeckten Merkmalen stieg, und noch ihr Atem perlte von Hormonen. Wenn sie so am Tresen standen, rings die flüchtigen Blicke, die niemals flüchtig blieben, genoß Willem aus seiner Fürsorge heraus den Anspruch auf ihre Reize. Er genoß ihre Zärtlichkeit und die Offenbarungen, die aus jedem Blick und jeder Berührung kommen konnten.

30
    Bei seinem Auszug mußte Willem feststellen, daß die Packer bereits Order hatten. Als die Wohnzimmergarnitur unten war, pfiff er die Männer zusammen, gab Auftrag, sie wieder hochzutragen, doch auf halbem Weg stellte sich ihnen die Mutter entgegen. Die Packer sahen einander an. Familienangelegenheiten interessierten sie nicht, und wer hier eigentlich das Kommando hätte. Nach kurzem Wortgefecht hörten die Männer Türenknallen, dann erschien Willem.
    Der Rest war schnell gemacht, und als die Planen verlascht waren, stand Willem mit den Männern bei Frikadellen und Bier. Der September war mild, mit weichem Licht, das morgens in den Tautröpfchen der Spinnenweben glühte, und einmal noch stieß er mit den Packern an, dann schickte er sie zum Speicherhaus. Beim Starten ließ der Laster eine Dieselwolke, die im hellblauen Mittag zertrieb. Willem hörte Gänse, und Richtung Fluß entdeckte er zwei Keilformationen. Als der Laster um die Ecke war, fühlte er sich prächtig.
    Den letzten Gang in die

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