Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
Vom Netzwerk:
stopfte Klopapier gegen den Schrei; bald traten die Adern aus seinem Unterarm, und dem Dicken sprangen die Augen aus dem Kaninchengesicht.
    Dann zerrte er Siegfried über die Schüssel. Das hier, sagte er, ist eine Sache zwischen dir und mir. Wenn du noch einmal petzt, laß ich dich das Zeugs fressen. Ich erwisch dich, ganz egal, wo.
    Wie gesagt, wenn man nur genügend über die wüßte, käme man schon dahinter. Wenns denn überhaupt ein Rätsel sei, denn so, wie er die Sache sehe, sei das leicht zu erklären. Die wüßte doch gar nicht mehr, wie vielen Kindern sie schon die Ohren langgezogen hätte, das sei wie Fressen und Scheißen, jahrein, jahraus, und solange das funktioniere, mache die sich da keinen Kopf drum.
    Hans stieß einen Pfiff durch die Scharte. Weißt du was, Willem. Zum Arzt müßte man gehen. Sich auf dem Ohr taub stellen, oder Kopfschmerz, sagte er, und der Mann, von dem sie die Reusen gepachtet hätten, sei bei der Zeitung. Verdammt, man müßte die Gemeinheiten dieser Lehrerbande in die Zeitung bringen. Ihnen ihre selbstgefälligen Jahre um die Ohren hauen und ihr Getue, als hätten sie die ganze Welt erobert und könnten sich überall zum Richter machen. Diese verdammten Lehrer wären niemals auf dem Atlantik gewesen und hätten dort die Glasaale gesehen, doch ein Buch reiche ihnen, um Faulschlamm und Dreck zum Gesetz zu machen. Und diese Lehrer wären niemals in Anatolien gewesen, doch eine Völkerschau reiche ihnen, um Marduk zum Neger zu machen. Was die alten Fischer wüßten, was Marduk wisse, das interessiere nicht. Echt, Willem. Zum Arzt müßte man gehen. Und zur Zeitung.
    Die Oma vom Hans hatte Marduk und seine Eltern eingeladen.
    Marduks Vater arbeitete als Müllkutscher, und er war dankbar dafür. Die Oma hatte ihm gesagt, daß es in Deutschland bereits vielen Menschen wieder so gut ginge, daß sie sich nicht einmal mehr um ihren eigenen Müll kümmerten, doch Marduks Vater war dankbar, daß die Deutschen ihn in ihr Land ließen und ihm Arbeit gaben. Für ihn waren die Deutschen gute Menschen, die aus ihren Fehlern gelernt hatten. In Deutschland wußten sie, was es bedeutete, ein anderes Volk auszulöschen, und seine eigene Familie gehörte zu einem Volk, das ausgelöscht werden sollte. Darum waren sie arm, darum hatte Marduk nie eine Schule besucht und mußte schon als Kind arbeiten. Und so war Marduks Vater dankbar, und daß die Deutschen ihm Arbeit gaben, hatte nichts mit Überheblichkeit zu tun, sondern mit Schuld und Sühne, und die Gemeinheiten der Lehrerbande konnten gar nicht wahr sein, weil die Lehrer Deutsche waren. So dachte Marduks Vater.
    Und Willem und Hans saßen an der Böschung. Sie sahen dem Fluß zu, zwischen ihnen lag der Beutel mit den Aalen, und manchmal zuckte es noch da drinnen, obwohl die Tiere bereits ausgenommen waren.
    Doch die Gemeinheiten waren wahr, und die Lehrer wußten nur, was sie wissen wollten. Warum Marduks Familie nach Deutschland kam, interessierte die genausowenig wie das Schicksal seiner eigenen Familie – nichtwahr, die Mutter vom Hans war tot, und der Vater kurbelte lustige Melodien für das Vergessen. Das totale Vergessen, das war nämlich noch so ein Gesetz für all diese weißen Teufel, und so brauchten die erst gar nicht zu hinterfragen, warum Marduk in seinem Land nicht in die Schule durfte oder warum sie dort kein Spülklosett hatten. Denn dann müßten die auch fragen, warum der Vater vom Hans ein Krüppel war und wie es angehen konnte, daß Hans in seinem kultivierten Vaterland genauso arbeiten mußte wie Marduk im wilden Anatolien. Doch solche Fragen brachten sie einem nicht bei; Marduk blieb Ziegenhirt, und Vaterland und Heimat blieben hehre Worte für die Deutschen. Für einen Wilden wie Marduk kamen sie nicht in Frage.
    Doch Marduk und seine Familie hatten eine Heimat. Und als sie bei seiner Oma in der Stube saßen, hatte Marduks Vater zuletzt geweint. Aus Verbundenheit zu den Bergen dort, den Flüssen und Bäumen; aus Liebe zu seinen Vorfahren und aus Schmerz, weil sein Volk einfach vertrieben wurde.
    So saßen die Jungs an der Böschung; das Wasser lief ab und es kam wieder zurück, und manchmal schlug das Zucken aus dem Beutel.
    Marduks Heimat, sagte Hans. Es muß ein schönes Land sein.
    Berge und Stromschnellen in den Schluchten, und wenn man den Horizont sehen will, muß

Weitere Kostenlose Bücher