Kronhardt
des Lebens, und nur was erfolgreich war, konnte sich durchsetzen. Und wenn eine Wahrheit erfolgreich war, konnte ebenso eine Lüge zur Wahrheit werden, sobald alle daran glaubten. Der Erdkundelehrer, meinte Willem, müsse ein einsamer und starker Mann sein.
5
Plötzlich übernahm von Weyer die Erdkunde. Ohne Erklärung trat sie vor die Klasse. Sie zeigte ihre Zähne, sie roch nach Festiger und Zigaretten, und in ihrem silberblonden Haar steckten Nadeln.
Wie heiÃt die Hauptstadt von Jugoslawien, rief sie. Wer waren die Begründer von Neptunismus, Plutonismus, Katastrophentheorie, rief sie. Wer erkannte als erster, daà es sich bei den Fossilien um Ãberreste von Organismen handelt? Von wann bis wann lebte Humboldt, wer war Alfred Wegener, und so marschierte sie vor der Klasse, spielte mit den Haarnadeln, leckte Blut vom Finger, und ihre Zähne waren gelbe Soldatenreihen.
Auf dem Schulhof prahlte der Dicke damit, daà der Erdkundelehrer nicht wiederkommen werde. Dafür habe sein Vater gesorgt. Er sei beim Rektor gewesen, weil der Lehrer ihn vor die Klasse geholt habe, und der Lehrer sei auch gegen Cola und Amerika, und da habe der Vater ein mächtiges Wort eingelegt. Auch andere Kinder prahlten, und die Hellblonde und die Dunkle mit den hohen Jochbeinen spalteten die Klasse zuletzt in zwei Lager; der Erdkundelehrer leugne die göttliche Weltordnung, behauptete das eine, sie hätten ihn verhaftet, weil er aus der Ostzone sei, das andere. So blieb der Lehrer verschwunden, und das Gerede um ihn wucherte, und bald schien jeder dem Ungeheuer noch irgendwie entwischt zu sein.
Willem ahnte, wie sich ein Netz um den Erdkundelehrer zog; wie die anderen mit geisterhafter Fernwirkung ein Mal in ihn brannten. Und wenn er mit Hans und Marduk, dem Jungen mit der Hakennase, auf dem Schulhof stand, kamen die Jungs zu der Ãberzeugung, daà es eine Ãberlebensstrategie sein konnte, sich mit anderen zu verbünden. Und daà es im Verbund viel einfacher war, eine Meinung zu einer Wahrheit zu machen und einen Lehrer zu einem Ungeheuer.
Von Weyer führte die Erdkunde fort.
Sie lieà Arbeiten schreiben und genoà die mangelhaften Ergebnisse; eine Katastrophe, sagte sie, stolzierte, leckte die Finger und nahm die Klasse mit aller Härte. Daten und Ereignisse, sagte sie, so sei die Welt aufgebaut, das sei das Kapital des Geistes, und wer immer noch glaube, Erdkunde sei zum Schwatzen da über Negerproblemchen oder Russenidylle, der habe sich geschnitten. Zackzack, wer entwickelte den modernen Doppelcharakter der Geographie? Wer war der Begründer einer vergleichenden Völkerbetrachtung? Wer befaÃte sich als erster mit der Heimatwirkung auf den Menschen? Und als sich niemand meldete, zeigte sie auf den Neuen. Doch auch Marduk wuÃte es nicht. So stand von Weyer vor ihm, das Kreuz durchgedrückt, die Hände in den Hüften, und der Junge lächelte stumm.
Ein Ziegenhirt aus Anatolien! Wo die Alten so faul wären, daà die Kinder arbeiten müÃten. Und jetzt sei er hier, ein Land mit Seife und Toiletten, und er dürfe in die Schule gehen, ein Privileg, auf das er in Anatolien noch tausend Jahre hätte warten müssen â und was: Er grinste! Verflixt, warum er so blöd grinste! Und alle starrten auf Marduk.
Dann stand Willem auf.
Marduk lerne doch jeden Tag Deutsch, sagte er, aber er sei noch nicht so gut, daà er alles verstünde. Und ehrlich gesagt, wenn wir seine Sprache lernen müÃten, würde niemand erwarten, daà wir nach ein paar Monaten schon Heimatwirkung oder vergleichende Völkerbetrachtung erklären könnten. Und dann, sagte Willem, hätte er auch gern noch gewuÃt, was mit dem Erdkundelehrer sei. Es gebe ja so viele Gerüchte.
Mit zwei Schritten war von Weyer bei ihm und schnappte nach seinem Ohr. Der Stuhl stürzte, Willems Gesicht scheuerte aufwärts; das junge Fleisch gegen den rauhen Stoff, über die Stützbügel des Korsetts und durch die Furche ihrer harten Brüste. Wie boshafte Geometrie zogen die Kreidestreifen auf ihrem Kostüm vorüber, blähten sich mit jedem Atemzug, und bald traf ihn der gebündelte Strahl â der Geruch ihrer Haare schien durch den Schädel gesickert und direkt aus ihren Nüstern zu stoÃen.
Als er aufblickte, waren ihre Zähne über ihm. Leuchtendgelb und glatt, wie die Instrumente einer hungrigen Macht. Soldatenreihen, die jederzeit zuschnappen
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