Kronhardt
verhüllen die Frauen ihren Busen. Oder es gibt gar keine Narbe, und wo der Penis einmal gebohrt hat, bleibt ein Loch, und BH und Korsett verhüllen den Blick auf tiefste Nacktheit â eine seltsame Vorstellung, diese offenliegenden Herzen der Frauen: zu Anbeginn des Lebens eine Sickergrube, meinte Willem; eine Kokonhöhle oder Nibelungenwunde â doch warum ausgerechnet ins Herz? Wo doch jeder Penisstoà tödlich sein kann, noch bevor neues Leben entstanden ist? Und wie können die Männer diesen Dolch mit sich herumtragen, der doch durch Fleisch und Knochen geht?
Im Lexikon fand er keine Antworten, und auch wenn es auf dem Schulhof Gerüchte gab, kannte er niemanden, der es wirklich wuÃte. Nicht mal Hans wuÃte, wie die Eltern die Kinder gemacht hatten; niemand, der hinterm Busen das offenliegende Herz gesehen hatte, niemand den Dolch eines Mannes. Niemand wuÃte, wie die Jungs später selber einmal so einen Dolch mit sich herumtragen sollten, niemand hatte die Eltern nackt gesehen oder traute sich zu, etwas zu fragen.
Reproduktion, stand im Lexikon. Bereits vorhandene Individuen erzeugten neue Individuen, und Kinder waren anscheinend das Produkt dieser Zeugung. Mehr nicht. Der wahre Akt blieb ein Geheimnis der Erwachsenen. Und Willem beschloÃ, dieses Gesetz zu brechen.
Vorm Roland drängte er durch eine Gruppe mit Ausflüglern, die den Worten einer Hosteà folgten. Er legte Hand auf den Patron, und als er weitermarschierte, warf er die Hand in die Luft und freute sich an den aufsteigenden Tauben.
Hinter der goldenen Pforte war die BöttcherstraÃe wieder aufgebaut, und so gelangte er durch den Tunnel an die Weser. Von der anderen Seite wehten die Gerüche der Bierbrauer und Kaffeeröster, und die Promenade lag im langen Licht des Spätsommers. Am Martinianleger wurden Leinen losgeworfen zur groÃen Hafenrundfahrt, und Willem sah die Barkasse, auf der sein Vater gestorben war. Es war die Alk, und beim Schwenk in die Fahrrinne flammte der Bug mit dem weiÃen Namen im Sonnenlicht. Bald zog sie ihre Spur, und manchmal langten Bruchstücke von den Lautsprecheransagen des Kapitäns ans Ufer. Willem dachte darüber nach, ob es noch immer derselbe Kapitän war.
Auf die schmale StraÃe im Faulenviertel waren keine Fliegerbomben gefallen. Die Häuser mit Souterrain und Hochparterre waren mit gelbem Klinker verziert und standen in Reihe. Zum Eingang von Nummer 7 führten ein paar Stufen, und im Windfang hing das emaillierte Schild.
Doktor Blask saà hinter seinem Schreibtisch, und als er mit der Hand auf den Tisch schlug, zitterte der Stirnspiegel. So also! Die vernagelten Alten rücken nicht mit der Sprache raus. Er lachte.
Und dann sagte er: Die Lehre vom Geschlechtsleben. Nun, eine Konferenz in Kopenhagen hat bereits 1907 festgelegt, daà die Fortpflanzungstatsache an sich nicht unanständig ist, und wenn man so will, ist das die erste Kopenhagener Deutung.
Die zweite stammt ja aus den DreiÃigern und befaÃt sich mit dem, was wir über die Wirklichkeit sagen können. Also mit den Bedingungen, unter denen wir die Welt beobachten, und mit unseren Deutungen daraus, die, wie wir ja alle wissen, auch jenseits der Quantenmechanik unterschiedliche Wirklichkeiten hervorbringen können. Und so ist rot nicht rot und Sex nicht Sex, und wieder schlug Blask auf den Schreibtisch. Diese vernagelten Alten!
Dann sagte er: Im Grunde hat sich seit damals nichts geändert. Noch heute veranstalten die Gelehrten ihre Tagungen â Soziologen, Psychologen oder Politiker â und reden mit feuchten Händen und roten Köpfen um den Brei. Diskutieren allen Ernstes, ob das, was in der Regel als Grundeigenschaft lebender Materie gilt, eine unsaubere Sache sein kann â Sex! rief er. SexSexSex! Die Voraussetzung zur Erhaltung der eigenen Spezies â und diese Alten machen daraus eine Verschwörung, als würden sie heimlich Kinder fressen. Was! Und Blask schlug sich auf die Schenkel.
Nun, es ist, wie es ist. Und die Lehre vom Geschlechtsleben ist bis heute ein eingefleischter VerstoÃ. Das deutsche Volksschulgesetz weigert sich, Sexualkundeunterricht zu statuieren, und verweist auf das Elternrecht; die Eltern sind selber nie aufgeklärt worden und völlig überfordert, und so verklemmt sich die Gesellschaft in einer Endlosschleife. Und schlimmer, jeder progressive Ansatz, beispielsweise ein AufklärungsausschuÃ, wird
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