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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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erlangen.
    Und seit dem Kollaps, meint Willem, werde der Schädel von allen Seiten belagert. Wissenschaftler und Scharlatane stünden in der Reihe, Industrie und Diktatoren, politisch gelenkte Kriminalität und terroristische Netzwerke. Man komme also nicht umhin zu sagen, daß dieser Schädel unglaubliche Energien bündele – und mehr: daß die Menschheit in ihrer Sturheit geisteskrank erscheinen müsse, sogar ein solches Phänomen in steuerbare Macht umwandeln zu wollen, obwohl es im Grunde eine wunderbar neue Sicht auf die Welt verspreche. Isn’t it so, sagt er, und Jake steht da im Schatten der Urpflanzen.
    Als sie weitergehen, scheint es, als wäre Jake mit seinen Gedanken noch tief in der Erdgeschichte verhaftet. Duisbergia, sagt er, muß sich sukkulentenhaft entwickelt haben, und sie sehen, wie die Blätter eng und spiralförmig an dem keulenartigen Stamm in die Höhe ziehen und einen schmalen, pilzartigen Schirm bilden. Und Archaeopteris, meint er, er stehe da wie der Urbaum schlechthin; mit seinen gefiederten Wedeln und der pyramidenförmigen Krone erinnere er an unsere Douglasien, und man könne vermuten, daß er alt geworden sei. Very old, meint Jake, und dann sieht er Willem plötzlich an und sagt, daß er drei Nadelspitzen von dem Schädelmaterial aus Leipzig bekommen habe. Und er erzählt, wie er gemeinsam mit Wissenschaftlern aus unterschiedlichen Disziplinen daran arbeite, Teilchen aus dem knochigen Staub zu isolieren und Parameter aufzuspüren, die sich vor und nach dem Experiment messen ließen. Das Experiment selbst solle im großen und ganzen eine Wiederholung der Quantenteleportation sein – eine Art Beamen im Labor, wobei jedoch niemand genau wisse, wie die im Georgischen Schädel immanente Rückwärtsbewegung der Zeit mit der forcierten Fernüberwindung des Raums wechselwirken werde. Und gerade diese Möglichkeiten zwischen Nichts und einer neuen Dimension bereiteten eine unglaubliche Spannung, und das um so mehr, da der Schädel noch immer ein einziges Rätsel sei und mit nichts zu vergleichen, was die Menschen je in Händen gehalten hätten. Eine Materialisierung der verwegensten Gedankenexperimente, die sich aus keiner Richtung erklären lasse. Ganz egal, sagt Jake und sucht mit seinen langen Schritten Willems Takt zu finden, ganz egal, aus welcher Richtung man den Schädel angehe, Fortschritte seien bis heute nicht zu verzeichnen, und es gebe nicht einen Ansatz, der auch nur näherungsweise greifen würde: implizite Ordnung, Chaos oder Komplexität – alles Fehlanzeige. Die Kosmologen träten auf der Stelle, die Mystiker und Quark-Spezialisten, als sei dieser Schädel mit menschlichem Hirn nicht zu fassen, und unterm Strich wisse man heute nur das, was damals schon die Russen rausgefunden hätten. Die Verjüngung finde weiterhin statt, mit einer immer schnelleren Frequenz. Gleichzeitig weichten die klassischen Merkmale des Erectus-Schädels auf in Richtung moderner Mensch; eine Art anatomischer Verschiebung, bei der sich anscheinend die Überaugenwülste und der Oberkiefer zurückzögen. Auch die Kielung auf dem Schädeldach scheine zu verflachen und die eher gedrungene Form in die Höhe zu streben, um Raum zu schaffen für mehr Volumen.
    Well, sagt er und wischt sich Schweiß von der Stirn. Das klinge dramatisch, and who knows, vielleicht sei es das auch. Denn neben allen eindeutigen Beobachtungen träten stets Sprünge auf, die alle Sicherheit verzerrten. Die Röntgenschicht- oder Resonanzverfahren beispielsweise ließen bei aller Tendenz niemals eine absolute Aussage zu. Obwohl der Vorher-Nachher-Effekt vor Augen liege, gebe es zugleich immer einen Blickwinkel des Sowohl-als-Auch, und dann bleibt Jake vor einer Galapagos-Schildkröte stehen. Schlägt ihr sanft auf den Panzer, steigt über das Tier hinweg und rauft sich das Haar. Er habe dabei zugesehen, wie unterschiedliche Nachweisgeräte die anatomischen Veränderungen offenbarten – wie sich zum Beispiel die Überaugenwülste zurückzogen, und auch ein Kollege sei dabeigewesen und habe das gleiche beobachtet. Als jedoch ein dritter Kollege dazugestoßen sei, habe die Situation zu schwanken begonnen, und während die beiden anderen weiterhin die Veränderungen hin zum Modernen beobachtet hätten, habe er plötzlich immer deutlicher den alten Erectus-Schädel sehen können, bis

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