Kronhardt
im Schein starr und fleckig. Die Prothese hat sich verschoben, sein Mund steht schief. Er trägt ein Halstuch mit grellen Punkten, das bis in die Arena bauscht; ein Hirschkäfer läuft herum, und Kronhardts Blick über den Nasenrücken ist kalt.
Es ist dunkel, als sie wieder allein sind. Wie die starre Leiche abtransportiert wurde, wissen sie nicht. Arzt und Polizei gehen von einem natürlichen Tod aus. Und Willem sagt: Kronhardt ist an Embolie gestorben. Sollte es irgendwelche Zweifel daran geben, wird von Wrangel sie auflösen.
Beide haben Tränen in den Augen, als sie die Tür zum Hartmann-Haus abschlieÃen. DrauÃen hat sich die Luft abgekühlt, der Regen fällt jetzt gleichförmig aus einem tief gegen die Stadt drängenden Himmel. Barbara spannt den Schirm auf, sie gehen eng beieinander. Ohne daà einer etwas sagt, bleiben sie vor der Eckkneipe stehen. Drinnen scheint sich nichts verändert zu haben. Ein Radio läuft, an der Wand hängt ein Sparkasten, und um den Stammtisch wird diskutiert. Der Wirt sitzt hinter einer Zeitung, und auf der Titelseite ist der Georgische Schädel zu sehen.
III
Die diskreten Auflösungen im Fall Kronhardt
1
In den ersten Septemberwochen wiederholen sich die Abschnitte eines ganzen Jahres; unlängst noch lag die Stadt unter Schnee, jetzt singen Vögel, und der Himmel hinter den Scheiben ist von sommerlichem Blau.
Willem spürt in diesen Tagen zum ersten Mal wieder eine Art Losgelöstsein; seit die Ramows ihm den Mord an seinem Vater offenbart haben, hat er sich nicht mehr so unbeschwert gefühlt. Wenn er jetzt auf dem Sofa liegt, scheint er getrennt von aller Vergangenheit. Es ist, als wäre seine Innenwelt geschützt gegen die Zustände ringsherum, als könnten sich Klarheit und Frieden dort ungehindert auswirken, und vom Sofa meint er manchmal, das Dasein wie ein Wunder in sich zu spüren. Er lebt, er staunt und kann sich immer wieder an den Augenblicken erfreuen.
Es hat viele Tote gegeben. Er wird niemals erfahren, ob sie noch lebten, wenn er Konetzkes Anruf ignoriert hätte. Die Umstände von Kronhardts Tod wurden nicht hinterfragt; im Totenschein hat der Arzt eine Embolie konstatiert. Kronhardts Beisetzung im Grab neben der Mutter war friedlich, unabänderlicher Teil des groÃen Zyklus. Seitdem laufen die Geschäfte noch besser, doch wahrscheinlich liegt die Ursache dafür in anderen Faktoren.
Laschek hat nicht lange gefackelt, und vor allem Barbara hat anfangs Sorge gehabt, daà der Dicke für sein Wissen ein ordentliches Kopfgeld von der Konkurrenz rausschlagen würde. Doch er ist zu dem RuÃlandoligarchen gegangen, und wie es scheint, kann er seine Neigungen und Fähigkeiten in dem weitverzweigten Netz dort bestens einbringen. Sein Platz im Speicherhaus ist wieder besetzt. Die Wahl fiel zuletzt auf Rebekka Steen, eine Frau in den Vierzigern mit Stupsnase und Sommersprossen und immer geradeheraus. Sie kommt nicht direkt aus der Materie, doch sie ist schnell, entschluÃfreudig und hat keine Mühe, sich Neues zu erarbeiten. Sie ist verheiratet, hat Kinder und ist ein fröhlicher Mensch.
Kronhardts Platz haben sie nicht wieder besetzt. Das Büro der Alten ist jetzt offen für alle; es gibt einen Arbeitsbereich und einen gemütlichen Teil, in dem auch Gäste empfangen oder Papiere unterschrieben werden. Es ist ein schlichter und eleganter Raum geworden, und die Frauen sitzen gerne dort, manchmal auch nach Feierabend. Sie fühlen sich wohl bei Kronhardt&Focke, tragen Verantwortung und sind an Entscheidungen und Gewinn beteiligt.
Der Luftdruck schwankt weiterhin, die Zustände verschmieren, und verläÃliche Vorhersagen lassen sich nicht machen. Manchmal türmen schwere Wolken gegen den Horizont, und kühler Wind fällt ein; doch kaum später erscheint die Färbung des Himmels wieder diffus, und milchige Hitze breitet sich aus.
Aus dem Sofa heraus kann Willem spüren, wie die atmosphärische Unzuverlässigkeit und damit verbunden die stets neuen Anforderungen der ganzen Stadt aufs Gemüt schlagen; wie die Menschen noch auf Kleinigkeiten angespannt reagieren, und auch Barbara ist launisch in diesen Tagen. Aus dem Nichts taucht sie auf und wirft ihm Untätigkeit vor; sie steht am Fenster und ruft sein Desinteresse aus, sie unterstellt ihm, mehr fürs Nichtstun oder den Georgischen Schädel zu empfinden als für sie. Meist läÃt Willem sie
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