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Kronhardt

Titel: Kronhardt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralph Dohrmann
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Arbeiters.
    Mit der Abendröte saßen sie auf dem Dach.
    Ostwärts zogen die Feuchtwiesen wie eine Steppe gegen das Teufelsmoor, zum Geestrücken hin entdeckten sie eine Sandkuhle – ein Auge, das in den Himmel starrte, und nach Westen zerlief die Stadt in Quadern und Schluchten. Aus den Fabrikschornsteinen stiegen violette Rauchpilze, der Fluß glitzerte, und die Autobahn erschien uralt und gleichgültig gegen jede Zivilisation. So saßen die Jungs in der Höhe. Schlosser holte seinen Beutel mit Knaster vor, dann schützte er die Glut gegen den Wind. Sie saßen wie auf einer Insel, und erst mit der Dämmerung stiegen sie hinab.
    In zwei Tagen würde der Bürgermeister eröffnen. Eine Schleife durchschneiden, und alle würden klatschen. Würden Übervölkerung bejubeln, und die Jungs konnten das nicht verstehen. So einfach, meinten sie, ließe sich die Stammesgeschichte doch nicht abschütteln; das Tier im Menschen brauchte noch immer Raum zur Freiheit, und wenn sie sich auf der Pelle hockten wie in einer dicht gestaffelten Nutztierhaltung, würde es früher oder später kritisch werden. Schließlich würde ein neues Sozialverhalten nicht hokuspokus entstehen wie dieser soziale Wohnungsbau.
    Die Tage darauf wurde es heiß. Und es blieb heiß, obwohl in der Tagesschau rasche Abkühlung vorausgesagt wurde. Der Meteorologe stand vor seinen Tafeln, stupste mit seinem Stock in ein Islandtief, umkreiste damit ein Adriahoch, und für ihn war es unvermeidlich, daß beide Fronten direkt über Deutschland kollidierten. Doch tags schien die Sonne, abends saßen die Menschen im Unterhemd, und wenn die Sterne rauskamen, war es eine perfekte Nacht. Schließlich stellte sich die Tagesschau darauf ein, und die Tafeln zeigten eine stabile, nierenförmige Zone über Deutschland, mit einem dicken, kreidegemalten H über Bremen. Und die Zeitungen meldeten zum Wochenende Kaiserwetter.
    Der Amboß tauchte Sonnabend auf, zur besten Zeit. Im Bürgerpark und an den Badeseen waren die Picknickdecken ausgebreitet, und in den Gartenlokalen wuchteten die Kellner Limo und Blondes. Doch der Amboß kümmerte sich nicht um Kaiserwetter. Er nahm die Stadt, trieb auf zu mächtiger Tuschfarbe, die Vögel verstummten, und in den Bäumen rauschte es.
    Damit haben sie nicht gerechnet, sagte Willem.
    Er lag mit Schlosser am Baggersee, und rings rafften die anderen ihre Sachen; der Wind schlug Hüte von den Köpfen, die Mädchen schrien, und bald hatten die Jungs den See für sich. Die Luft schwoll, und dann gab es nichts mehr, was Wildheit und Kraft noch zügeln konnte. Die Elemente stülpten sich übers Kaiserwetter, es prasselte und donnerte, bald dampfte der See, und bald erdrückte der Amboß den Dampf – ein Bild, meinten sie, wie aus dem Altertum. Und im diffusen Licht konnten sie Kentaurenkämpfe sehen und Sirenen, und dann schien ihnen die Erde nur noch ein Schlachtfeld in der Milchstraße.
    So saßen die Jungs im aufgeweichten Sand. Sahen zu, wie der Amboß nach Osten zog und die aufgetriebenen Tuschefarben in den Horizont drückte. Und sie spekulierten darüber, ob es jeweils spezielle Anfangsbedingungen für die Entwicklung von so einem Amboß gab – womöglich ein Waldbrand in Kanada, meinten sie, oder eine furzende Kuhherde gleich um die Ecke, und die Vorstellung, daß eine für alle zutreffende Vorhersage am Ende unmöglich war, weil es zu viele unvorhersehbar wechselwirkende Faktoren gab, gefiel den Jungs. So ein Amboß, meinten sie, hätte sich ebenso überhaupt nicht entwickeln können, und das Wochenende wäre unter Kaiserwetter verblieben. Oder der Amboß hätte sich über dem Rotenburgischen entladen, über Helgoland, und sie kamen zu dem Schluß, daß man im Grunde erst Bescheid wußte, wenn sich so ein Amboß entwickelt hatte.
    Und dann gingen sie weiter und fragten, ob womöglich auch andere Bereiche der Realität sich nur unter bestimmten Voraussetzungen ausbilden konnten. Eine Überschwemmung etwa oder ein Verkehrsstau. Oder das Sonnensystem, meinten sie, und das Leben auf der Erde. Und vom Leben gingen sie weiter und fragten, ob Realität sich womöglich erst dann ausbilden konnte, wenn etwas da war, was es als Realität verankerte. Ein Lebewesen, meinten sie, das sich aus den unvorhersehbaren Anfangsbedingungen und Wechselwirkungen – gewissermaßen

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