Kronhardt
sagte sie, sei ein künstliches System, das sich selbst organisiere und erhalte, indem es ständig künstliche Energien erschaffe, die es nährten. Selbsterhaltung um jeden Preis sei sein eigentlicher Zweck, und seine Methoden seien so verschlagen, daà der Mensch, seine Freiheit und noch seine Seele verwandelt würden. Und solange man sich seinem Einfluà hingebe, würde er blenden und vervielfältigen und zerstören, bis nichts mehr existiere. Ein bösartiger Nimmersatt, der die Menschheit zerfressen werde, so wie die Leukämie sie selber von innen zerfresse. Doch gerade deshalb, sagte sie, weil dieses System nur funktioniere, indem es zerstöre, sei es zeitlich begrenzt. Und daraus ergebe sich nicht nur Hoffnung auf Gleichheit und Glück aller Menschen, sondern auch, daà der Klassenfeind nur ein vorübergehendes Problem wäre.
Klassenfeind, sagte Willem.
Und Constanze lächelte, und ihr Körper kam nahe.
Und die Mauer, sagte Willem.
Der Staat muà das Volk beschützen.
Und wenn die Mauer Teil eines Systems ist, mit dem der Staat sich selber schützt?
Constanze lachte. Wir sind kein Volk, das wegläuft. Schau mich an. Ich reise aus und kehre mit Freuden wieder zurück.
Aber andere werden an der Mauer erschossen. Oder nicht?
Auch in unserem Staat gibt es Bürger, die den Kollektivgedanken verraten und das groÃe Glück der Völker gefährden. Vielleicht sind diese Bürger asozial. Vielleicht sind sie auch nur schwach und verblendet, beides ist jedenfalls keine Rechtfertigung, sie zu erschieÃen. Doch solange wir in einer gespaltenen Welt leben, wird es Opfer geben; zumal dort, wo die Gegensätze so mächtig aufeinandertreffen.
Willem sah das Mädchen an, und sie schien immer noch zu leuchten, als käme sie von einem anderen Stern. Ich kenne die DDR nicht.
Constanze lächelte. Vielleicht würde es dir dort auch gefallen.
Keine Ahnung. Lassen sie dich dort sein, wer du bist?
Und sie lachte. Ja, was denkst du denn.
Ich weià nicht. Auch hier könnte man glauben, frei zu sein. Doch in Wahrheit bestimmen sie alles und lassen einen nicht sein, wie man sein will.
Sie berührte ihn. Der Westpakt, flüsterte sie, wird zusammenbrechen. Seine Verblendungsmechanismen. Und dann kam sie ganz nahe, ihr Atem und ihre Stimme in seiner Muschel. Ich lebe jetzt zwei Jahre mit der Leukämie und kenne andere, die es nicht so lange geschafft haben. Wieder andere leben schon fünf, ja zehn Jahre damit, und einer wurde sogar geheilt, Rudi Marschallke, und Ulbricht hat ihn zum Helden der Republik ernannt. Dann stieÃen ihre Lippen in sein Ohr. Ich weià nicht, ob ich den Zusammenbruch des Westpakts noch erleben werde. Aber ich habe ein Leben geschenkt bekommen, und daraus will ich etwas machen.
Sie zog ihn sanft von der Meile.
Im Watt nahm sie seine Hand.
Und die Sonne, sagte er.
Sie lächelte.
Das Leben und die ganze Welt waren schön neben diesem Mädchen. In ihrer Nähe hatte er das Gefühl, der sein zu können, der er war, und es schien ihm von vornherein falsch, das Bild von sich in eine Richtung zu verbiegen, um sie für sich einzunehmen.
Er spürte die Hitze zwischen ihren Händen, und bereits die Wirkung so einer einfachen Berührung ging über alles, was er sich mit den Patrizias und Solveigs vorgestellt hatte.
Constanze sah ihn an, und er spürte ihre Lippen. Und dort, wo er sonst die Welt in Worte verwandelte, empfand er eine Welt, für die es keine Worte mehr gab.
Die Furchen im Watt waren endlose Fraktale, und in den Prielen spiegelte sich die Ewigkeit. Sie schmeckten das Salz, Constanze band das Tuch vom Kopf und lieà ihr Haar fallen. Ihr Trikot knisterte und glitt leicht über die Arme. Die Haut darunter war weiÃ, und noch ihre SchweiÃperlen erschienen wie aus Milch. Die Welt war eine Scholle, sie lagen zwischen Himmel und Horizont und schöpften Atem von weit dahinter. Ihre Haut im Netzwerk aus Furchen und Schlick, ihre Körper eingeschmolzen in Blasen und Kegel, und zuletzt dirigierte das Mädchen. Sie hatte keine Angst, sie wuÃte, wie es ging, und drüben kriegten sie die Pille sogar kostenlos.
Die Flut holte sie kurz vor der Meile ein.
Als sie am Strand lagen, spülten Wellen über ihre Bäuche, und sie sahen zu, wie die Scholle versank. Man bekam ein Leben geschenkt, und dann muÃte man etwas daraus machen.
Auf der Heimfahrt trugen die Mutter und
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